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# taz.de -- Dostojewski im Schauspielhaus Hamburg: Immerzu wird Klavier gespielt
> Um große Fragen von Sinn, Liebe und Glauben geht es in „Die Brüder
> Karamasow“. Oliver Frljić hat den Roman etwas geschwätzig in Hamburg
> inszeniert.
Bild: Wie in einem Gemälde: Markus John und Daniel Regenberg in „Die Brüder…
„Vatermörder“, brüllt Fjodor Karamasow seinen Sohn Dimitrij an. Da sitzen
sie an einer langen Tafel. Mit dabei: der Bruder Aljoscha, ein paar
Brötchen und zwei Kerzenleuchter. Der Rest des Raums ist leer und versinkt
in tiefem Schwarz. Es sind noch keine zehn Minuten vergangen, da weiß man
von dem Hass zwischen Vater und Sohn. Weiß, warum alle Familienmitglieder
der Karamasows ein blutrotes Oberteil tragen und dass der alte Karamasow
diesen Abend nicht überleben wird.
Und doch werden im Deutschen Schauspielhaus Hamburg noch etwa 200 zähe
Minuten vergehen, bis dieser autoritäre, aufbrausende Sack, der vor allem
sich und sein ausschweifendes Leben liebt, ermordet werden wird.
Tatsächlich aber nicht von seinem Erstgeborenen Dimitrij, sondern von
Smerdjakow, seinem unehelichen vierten Sohn. Doch das ist eine lange, eine
sehr lange Geschichte. Und sie ist kompliziert.
Mehr als 1.000 Seiten umfasst der Roman, den [1][Fjodor Dostojewski] in den
Jahren 1878 bis 1880 schrieb. Es ist sein letztes Werk und es erzählt neben
jenem Mord von Liebe und Eifersucht, von den großen Lebenssinnfragen,
diskutiert Schuld und Unschuld, den Glauben an Gott und den an den
Menschen. [2][Oliver Frljić] hat es – in einer Fassung von Bastian Lomsché
und Rita Thiele, die den Vatermord ans Ende stellt – in Hamburg auf die
Bühne gebracht.
Es ist hier die erste Arbeit des kroatischen Regisseurs, dem der Ruf eines
provozierenden, radikalen Theatermachers vorauseilt. Von Radikalität aber
ist rein gar nichts zu sehen.
## Untergang der Zwischentöne
Stattdessen wird dauernd und so sehr gebrüllt, dass sowohl sämtliche
Inhalte als auch mögliche Zwischentöne der eigentlich philosophischen
Diskurse zwischen den Brüdern Iwan (Carlo Ljubek), dem kritischen
Intellektuellen, und Aljoscha (Paul Behren), dem im Kloster lebenden
Novizen, völlig untergehen.
Gepflegte Streitkultur gibt es nicht in diesem Hause Karamasow. Und das
Gebrülle wird noch lauter, wenn es um die Frauen der Geschichte geht, um
die meist mehrere Männer kreisen. Der Gruschenka (Sandra Gerling spielt sie
in einem halbtransparenten Kleid zwischen mädchenhaft, wild und wild
entschlossen) sind Fjodor (Markus John) und Dimitrij (Christoph Jöde)
gleichermaßen verfallen. Letzterer ist eigentlich mit Katerina Iwanowna
verlobt, an die wiederum Iwan sein Herz verloren hat.
Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, bemüht sich Aljoscha
zunächst, sorgsam die Liebesgeschichte von Katerina aufzudröseln, berührt
nebenbei und zutiefst Gruschenkas Herz, um dann später auf die
Heiratswünsche der im Rollstuhl sitzenden Lisa Chochlakowa (Eva Bühnen)
einzugehen.
## Der Versuch, alles zu erzählen
Man könnte meinen, Vieles davon sei inbrünstige Nebensache. Nicht für
Oliver Frljić. Er erzählt das alles – und noch viel mehr. Oder versucht es
zumindest. Statisch und geschwätzig zugleich. Statt einen klaren
inhaltlichen Fokus zu setzen, muss in seiner Inszenierung reichlich
(Text-)Strecke gemacht werden. Dazu wird mal ein schwarzer Gazevorhang
eingesetzt, mal ein Plastikherz an der Angel, mal ein zehn Meter langer
Bart. Immer wird Klavier gespielt, mal wird dämonisch gelacht oder um Rubel
gebettelt und oft wird einfach nur verloren im Raum herumgestanden. Da
werden „Füßchen“ (also Schuhe) geküsst, Liebesbriefe verlesen,
Kindheitsgeschichten ausgepackt und Gräber geschaufelt.
Wenn mancher Zuschauer längst den Faden verloren hat, lässt Frljić das
Bühnengeschehen, fast so, als wolle er ein nächstes Verwirrungslevel
einbauen, im kerzenscheinschummrigen Dunkel eines
Georges-de-La-Tour-Gemäldes verschwinden oder zwei Dutzend kahle Baumstämme
vom Schnürboden hinab- und wieder hinaufschweben (Bühne: Igor Pauška).
Später erscheinen an der Rückwand erschreckend große Projektionen von
erschreckend gütigen Jesusdarstellungen im Wechsel mit erschreckend
altmeisterlichen Darstellungen menschlicher Gräueltaten.
## „Alles ist erlaubt!“
Je weiter der Abend voranschreitet, desto verzweifelter scheint der
Live-Pianist (im Dauereinsatz: Daniel Regenberg) in die Tasten zu greifen.
Gerade so, als müsse er sich vor seinem roten Trainingsanzug rechtfertigen
und etwas Tempo in die Sache bringen.
Irgendwann, irgendwo hinter verschlossenen Türen geschieht dann der
Vatermord. Der polyamore Patriarch ist tot. Dimitrij wird zur Strafe nach
Sibirien geschickt. Mit einer Schlinge um den Hals macht Smerdjakow (Matti
Krause) – zur Erinnerung: Er ist der Mörder! – Iwan noch ein schlechtes
Gewissen und damit zum Mittäter. Dann hängt Smerdjakow sich auf.
„Alles ist erlaubt“, hatte Iwan ein paar Stunden zuvor propagiert und damit
Smerdjakow jegliches Schuldgefühl genommen. „Alles ist erlaubt“, das gilt …
meines Erachtens – auch für das Theater. Doch nicht alles ist Kunstglück,
ist aufreibend, sinnhaft, relevant oder zumindest interessant. Diese
„Brüder Karamasow“ sind es nicht.
13 Sep 2021
## LINKS
[1] /Start-der-Spielzeit-Volksbuehne-Berlin/!5249145
[2] /Performance-im-Berliner-Gorki-Theater/!5779622
## AUTOREN
Katrin Ullmann
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