| # taz.de -- Dostojewski-Inszenierung: Gefährliche Clowns | |
| > An den Münchener Kammerspielen inszeniert Kristian Smeds frei nach | |
| > „Schuld und Sühne“. Sein imaginärer Zirkus kommt der Wahrheit ein Stück | |
| > näher. | |
| Bild: Clowns in der Sauna. | |
| Wenn ein Finne bürgerliches Theater inszeniert, darf die Sauna | |
| selbstverständlich nicht fehlen. Kristian Smeds lässt sie als Kasten auf | |
| die Bühne rollen. Dem heißen Holzkäfig entsteigt ein Mann in | |
| Inkontinenzschlüpfer, der sich als Säugling geriert und das Publikum | |
| sabbernd um Schokolade anbettelt. Und schon ist man mittendrin im | |
| Smeds’schen Kosmos, denn Respekt vor den Klassikern kennt der 1970 geborene | |
| Dramatiker und Theaterregisseur nicht. | |
| Mit Wonne reiht er in seiner Inszenierung „Der imaginäre sibirische Zirkus | |
| des Rodion Raskolnikow“ an den Münchner Kammerspielen eine Absurdität an | |
| die andere. Mit der Handlung der Romanvorlage hat seine Version nur sehr | |
| entfernt zu tun, etwa dann, wenn die beiden Morde, die Raskolnikow begeht, | |
| in einer komödiantisch überzeichneten Schädelspaltung auf der Bühne zitiert | |
| werden. | |
| Smeds’ Protagonisten, dargestellt von Schauspielern der Kammerspiele | |
| München sowie Darstellern aus Budapest, Helsinki und Tallinn – das Personal | |
| des imaginären Zirkus – sind Karikaturen. Direktor, Clown, Cowboy, Pierrot | |
| und Konsorten agieren als ungeheuer lächerliche, nervtötende, verrückte und | |
| aggressive Rüpel, die ihr deviantes Verhalten exzessiv ausleben. | |
| Dieser gefährliche Zirkus, kongenial begleitet vom großartigen | |
| Einmannorchester des Musikers und Sängers Timo Kämäräinen, zelebriert das | |
| Abartige. | |
| ## Gesetzloser Kosmos | |
| Der Zirkus ist ein gesetzloser Kosmos fernab jeglicher Zivilisation, in dem | |
| sich die Personen missbrauchen und bedrohen. Seine Kreaturen haben keine | |
| Sprache und kommunizieren ausschließlich über Pantomime. Meist entfahren | |
| den Artisten nur mehr Schreie und Tierlaute, als klagten sie die | |
| Sprachlosigkeit in einer unmenschlich gewordenen Welt an. | |
| Smeds, oft als populärster Dramatiker und Theaterregisseur seines | |
| skandinavischen Heimatlandes bezeichnet, ist ein politischer und radikaler | |
| Theatermacher. Populismus und Kapitalismus, dessen Ausbreitung er mit Sorge | |
| betrachtet, sagt er mit seinem „Freistaat der Kunst“ den Kampf an. | |
| Ein Ziel, das ihm mit seiner Inszenierung an den Münchner Kammerspielen | |
| gelingt. Der Finne brilliert als kompromissloser Regisseur, der von seinem | |
| Publikum fordert, sich auf diese Tour de Force der menschlichen Abgründe | |
| einzulassen. | |
| Durch die kraftvolle Schauspielkunst des siebenköpfigen Ensembles gipfelt | |
| das Bühnengeschehen in einem Furor, in dem sich ein wild gewordener Mob in | |
| Ekstase schreit, sein Opfer stranguliert und mit Elektroschocks | |
| malträtiert, ohne Mitleid mit dem Winselnden zu zeigen. Smeds schafft | |
| beeindruckende Gefühlslagen, produziert ausdrucksstarke Bilder, etwa wenn | |
| der Pierrot ein Mädchen zärtlich in den Schlaf wiegt. | |
| ## Kindergeburtstag auf Speed | |
| Im Gedächtnis haften bleibt nach dem ersten Teil des Abends eine Art des | |
| Theatermachens, die auf eine Erzählung im konventionellen Sinn verzichtet | |
| und stattdessen ein Spektakel zeigt, sinnlich und körperlich, angeheizt vom | |
| enormen Spieltrieb seiner namenlosen Protagonisten. Es mutet an wie ein | |
| Kindergeburtstag auf Speed, mit dem Smeds illustriert, zu welchen | |
| Grausamkeiten der Mensch fähig ist. | |
| Theoretisch fundiert wird Smeds’ Inszenierung im bedächtigen zweiten Teil. | |
| Zurück in der Welt der Humanität, haben die Schauspieler ihren Intellekt | |
| wiedergefunden und zitieren in einer von Kerzenlicht beleuchteten Gruft | |
| Dostojewski-Passagen. Sie reflektieren die Gründe, mit denen der Mörder | |
| Raskolnikow seine Bluttaten zu rechtfertigten sucht. | |
| Indem er nämlich zwei Klassen von Menschen definiert und sich so über | |
| andere erhebt: Menschen und Menschmaterial gebe es in der Welt. Die | |
| Menschen seien dazu auserwählt, die Gesetze für das Menschmaterial zu | |
| erschaffen. Auch mit Fantastereien dringt man zur Wahrheit hervor, lässt | |
| Smeds einen seiner Schauspieler räsonieren. Der Wahrheit ist der finnische | |
| Regisseur an diesem fulminanten Theaterabend mit Sicherheit ein Stück näher | |
| gekommen. | |
| 8 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Walter | |
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| Arte | |
| Münchner Kammerspiele | |
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