| # taz.de -- Konfliktreiches Theaterstück: Mutter des Terrors | |
| > Die deutschsprachige Erstaufführung von Tom Lanoyes „Gas – Plädoyer ein… | |
| > verurteilten Mutter“ am Goetheplatz ist eine schön konfliktreiche | |
| > Inszenierung | |
| Bild: Gönnt sich kaum Distanz zu ihrer Rolle als Terroristen-Mutter: Fania Sor… | |
| Bremen taz | Eine üppige Anzahl Taschentuchpackungen steht zum Aufsaugen | |
| der Körperflüssigkeiten bereit, die gleich aus der affektgeladenen Tragödin | |
| laufen. Auch Handtücher liegen da, um die schwarzen Bäche einer | |
| überlaufenden Kaffeemaschine und den milchig braunen See eines | |
| überschwappenden Kaffeebechers aufzusaugen. Auf ihm sind niedliche | |
| Schäfchen skizziert, alle weiß – und eines schwarz. | |
| In „Gas – Plädoyer einer verurteilten Mutter“ steht eine namenlos | |
| monologisierende Mutter auf der Bühne: übervoll mit rasenden Gedanken und | |
| überlaufend mit tobenden Gefühlen. Sie will das schwarze Schaf ihrer | |
| Familie verstehen. Nicht, um zu verzeihen, sondern um einen Punkt machen | |
| und Abschied nehmen zu können. Von ihrem Sohn. Dreimal ist er der | |
| Alleinerziehenden bereits verloren gegangen: durch pubertäre Abnabelung, | |
| naturgemäß, als radikaler Konvertit zum Islam, terroridiotisch, und durch | |
| Hunderte Polizeikugeln, nachdem er einen Nervengas-Anschlag von bisher | |
| unbekannter Bestialität verübt hat. | |
| Tom Lanoye schrieb „Gas“ als politischen Debattenbeitrag zur Lage | |
| auseinander brechender westlichen Gesellschaften in Form einer mitreißend | |
| emotionalen Selbstsuche, die als Spiegel unserer Zeit funktioniert. | |
| In ihrer packenden Performance erlaubt sich Darstellerin Fania Sorel keinen | |
| Millimeter Distanz zu ihrer Figur, betreibt totale Anverwandlung als | |
| höchste Kunst. Mitten im heruntergewohnten | |
| 1970er-Jahre-Einbauküchen-Naturalismus: das Gefängnis mütterlicher Scham | |
| und Schutzraum gegen die Anfeindungen von draußen (Bühne, Kostüm: Nadine | |
| Geyersbach). Wirr gemustert, ausgewaschen bunt, mit billigen | |
| Glitzerapplikationen: geradezu psychologisierend ist Sorels Kleidung. Dazu | |
| trägt sie von Beginn an tränenglänzende Augen. Der Kopf zittert sacht vor | |
| innerlicher Erregung. | |
| In direkter Publikumsansprache wird so die Geschichte ihres barbarisierten | |
| Sohnes chronologisch ausgebreitet. Abstrahiert und immer wieder neu | |
| überkritzelt ist er strahlend ängstlich auch in Animationsfilmchen zu | |
| sehen, die auf die Schrankwand seines Jugendzimmers projiziert werden. | |
| Während Wut, Ohnmacht, Trauer und Selbstvorwürfe die Mutter zu | |
| Erklärungsversuchen antreiben, warum gerade ihr Kind sein Leben dem | |
| Dschihad opferte. Hat es den als scheu, kuschelig, neugierig, charmant, | |
| romantisch und klug beschriebenem Jungen überhaupt gegeben? Hat nicht immer | |
| schon hinter diesen Masken das Massenmördermonster gelauert? | |
| Verwirrt, fahrig wie die Mutter argumentiert, backt sie Kuchen. Was ihre | |
| einzige Beschäftigung zu sein scheint. Denn die inwendig mit | |
| Kinderzeichnungen geschmückten Küchenschränke beherbergen ausschließlich | |
| Packungen voller Mehl, Zucker, Eier und Milch. Kämpferisch mischt und | |
| matscht sie daraus den Teig. Kleht ihn klumpig in Form und knallt alles in | |
| den Ofen. Würzt währenddessen ihre Rede von der Recherche einer verlorenen | |
| Zeit mit medial vermittelten Theorien zum Extremismus einer | |
| marginalisierten Jugend und schmeckt dezent entschuldigend mit | |
| Fehlentwicklungen unserer westlichen Zivilisationen ab. | |
| Mit ihrem flämisch artikuliertem Deutsch hat Sorel dazu einen ideal | |
| passenden, da genuin gebrochenen Tonfall zur Verfügung: ein ständiges | |
| Ringen um die Worte dieses trotz seiner Eloquenz ratlos brüchigen Textes. | |
| „Mir schaudert“, sagt die Mutter – angesichts des Sohnes und einer | |
| Gesellschaft, die ihn als Zielscheibe für ihre Erschütterung braucht. Und | |
| die sich die Mutter vorknöpft: Sie hätte doch etwas geahnt haben müssen. | |
| Ist mitverdächtig. Gar Mittäterin? Immerhin hat sie dieses Ungeheuer | |
| geboren und großgezogen. | |
| Nein, auf Mitleid ist sie nicht aus. Aber ihre Mutterliebe will sie | |
| verteidigen und ihrem Abscheu Ausdruck verleihen. „Ich hätte ihn fressen | |
| können“, spricht sie zärtlich gerührt über den Sohn und fährt fort: | |
| „Vielleicht hätte ich das besser getan.“ Denn ohne seine Taten zu | |
| beschönigen, ohne sich selbst zu schonen, wie kann sie jetzt weiterleben? | |
| Sie muss doch wissen, woher der Junge die Grausamkeit hat. „Sehe ich aus | |
| wie die Frau eines uralten Mördergeschlechts?“ Aber ja, sie habe Fehler in | |
| der Erziehung gemacht. Habe ihn gehen lassen. Die Gefährdung, Verführung | |
| nicht bemerkt … | |
| Bei so viel Trauer und Entsetzen, die ihr Sohn ausgelöst hat: Wie ist da | |
| Buße möglich? Lanoye spendiert keine Erlösung. Aber dem Publikum einen | |
| Text, der packt mit seinen Konflikten, den unauflöslichen Widersprüchen und | |
| verzweifelten Fragen. Eine unbequem bohrende, in jeder Sekunde | |
| faszinierende, empathische Regiearbeit ist Alize Zandwijk gelungen – leider | |
| in dieser Saison die einzige ihres Fachs, die diesbezüglich am Schauspiel | |
| Bremen verlässlich tätig ist. | |
| Termine: 18. Mai, 20. Juni, 20 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus | |
| 9 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
| ## TAGS | |
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