# taz.de -- Irakisches Theater mit Syrern: Die Vision der Versöhnung | |
> Der deutsche Regisseur Stefan Otteni arbeitet im Irak mit Geflüchteten | |
> aus Syrien. Raum gibt ihnen das Kloster des Ordens Deir Mar Musa | |
> al-Habaschi. | |
Bild: Proben für die „Konferenz der Vögel“, ein Theaterprojekt des Regiss… | |
„So traumatisiert wie einige Kinder sind, brauchen sie eigentlich kurdische | |
Sonderpädagogen, aber keine deutschen Regisseure“, sagt Stefan Otteni. Die | |
Kinder, von denen er spricht, sind mit ihren Familien vor dem Krieg in | |
Syrien nach Suleimania geflohen, eine Großstadt in der Autonomen Region | |
Kurdistan im Nordirak. Dort hat der Berliner Theatermacher, dessen | |
Inszenierungen von Potsdam über Braunschweig bis Nürnberg gezeigt werden, | |
sechs Wochen mit ihnen geprobt. | |
Kinder und Erwachsene, Geflüchtete und Bewohner der Stadt Suleimania | |
gehören seinem Theaterprojekt an, das weit über sich selbst hinausweist. Es | |
zeigt in einer Region, die seit Jahren von Krieg, Zerstörung und Hass | |
bestimmt wird, etwas Atemberaubendes: dass Religionen und Nationen nicht | |
nur nebeneinander, sondern auch miteinander versöhnlich auskommen können. | |
Vor seiner Abreise im April, da probte er noch ein anderes Stück in | |
Münster, erzählte Otteni der taz ausführlich am Telefon von diesem Projekt | |
und berichtet seither regelmäßig wieder via E-Mail von den Proben im | |
Kloster des Ordens Deir Mar Musa al-Habaschi, das Kloster des heiligen | |
Moses. | |
Angestoßen wurde das Theaterprojekt durch den deutschiranischen | |
Schriftsteller Navid Kermani, der seine Rede zur Verleihung des | |
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 dem Orden und seinem | |
entführten Gründer widmete. Der Orden, der sich der Aussöhnung zwischen | |
Islam und Christentum verschrieben hat, hat eine bewegte Vergangenheit: Vor | |
bald vier Jahren hat die Terrororganisation Islamischer Staat den Gründer | |
des Ordens Paolo Dall’Oglio verschleppt. Bis heute fehlt jedes | |
Lebenszeichen. | |
Ein zweites Entführungsopfer, Pater Jacques Mourad, konnte befreit werden, | |
von muslimischen Freunden. Doch die alte Heimat des Ordens nahe der | |
syrischen Kleinstadt Qariatain wurde zerstört, und die Gemeinde hat sich in | |
Suleimania niedergelassen. | |
## Angeschwollene Großstadt | |
Die ursprünglich eine Million Einwohner fassende Großstadt ist wegen des | |
Kriegs in Syrien auf das Doppelte angeschwollen. Viele Christen sind | |
hierhergeflohen. Monatelang wurden sie im Kloster beherbergt, im | |
Kirchenraum, in der Bibliothek. Mittlerweile konnten Containersiedlungen | |
gebaut werden, in denen ihr neues Leben im muslimischen Kurdistan beginnt. | |
Jacques Mourad und die anderen Pater haben eine Mission: Sie wollen | |
syrische Christen und syrische Muslime, wollen Kurden und Arabern | |
zueinander führen, einen Ort schaffen, an dem die Menschen sich im Respekt | |
vor den anderen Glaubenstraditionen begegnen, ohne Vorurteil und | |
Wertung, ohne Hass. Das Kloster, 200 Kilometer entfernt von der heftig | |
umkämpften Stadt Mossul, setzt eine Menge in Bewegung. Es bietet für die | |
Geflüchteten Kurdischunterricht und Computerkurse an, veranstaltet | |
Kinoabende und unterhält eben jene Theatergruppe, die unter der Regie des | |
deutschen Gastes und seines Teams an einer Inszenierung arbeitet. | |
Die Darsteller sind Hausfrauen, Familienväter, Studenten, Kinder. | |
Einheimische arbeiten mit Flüchtlingen. Man spricht Arabisch, Kurdisch, | |
Persisch. „Die Konferenz der Vögel“ führen sie im Juni auf, ihre Version | |
des persischen Märchens aus dem 12. Jahrhundert: Tausende Vögel begeben | |
sich auf die Suche nach Gott und durchqueren sieben beschwerliche Täler, | |
die für Herausforderungen wie Liebe, Verlangen und den Tod stehen. Als sie | |
am Schluss nur noch dreißig sind und den Ort erreichen, wo Gott sein soll, | |
finden sie ihn nicht. Bis sie erkennen, dass er in ihnen ist, dass er sich | |
auf der Reise in ihrem Zusammenhalt manifestiert hat. | |
## Irritation und Rückschläge | |
So interpretiert Otteni das Epos, das er als Rahmenhandlung für sein | |
Projekt nimmt. Innerhalb dessen erzählen die Reisenden ihre Geschichten. | |
Oder ihre Träume. Als er mit seinem Choreografen 2016 zu einem | |
vorbereitenden Workshop in der Stadt war, baten sie die Menschen, ihre | |
Fluchtgeschichten zu erzählen. „Das hat für Irritationen gesorgt“, erinne… | |
sich Otteni. „Man fand das sensationsheischend: Da kommen die Europäer | |
und wollen unsere krassen Geschichten hören.“ | |
Daraufhin wurden Körper- und Tanzimprovisationen entwickelt und mit Hilfe | |
von Übersetzern auch ganz persönliche Erfahrungen umgesetzt und | |
aufgeschrieben. Bei der Entwicklung ihrer Version der „Konferenz der Vögel“ | |
lassen Otteni und sein Team eigene Ambitionen beiseite und richten sich | |
nach den Wünschen der Darsteller. Das war für viele anfangs ungewohnt. „Man | |
hatte das Gefühl, es war das erste Mal seit Jahren, dass sie gefragt | |
werden, was sie selbst wollen“, sagt Otteni. | |
Der einzelne Mensch besitze nach vielen Jahren Krieg keinerlei Wert mehr, | |
sagt Pater Jacques. Der Assad-Kritiker hat den Westen schon Jahre vor | |
Ausbruch des Kriegs in Syrien gewarnt, niemand wollte es hören. Darum ist | |
es vielleicht das Wichtigste, das dieses Projekt erreichen kann: den | |
Menschen wieder einen Wert als Individuum geben, weil Flüchtende nur noch | |
als Masse wahrgenommen werden. In den Unterkünften geht es im Kontakt mit | |
den Flüchtlingsorganisationen oft nur um Zahlen: Wie viele Mittagessen | |
brauchst du? – 200. „Jede Individualität geht da verloren. Und genau danach | |
lechzen die Menschen in dem Projekt“, berichtet Otteni. | |
Bei den Proben gibt es Rückschläge, Verzögerungen. Die Arbeit an der Bühne, | |
die ein Kurde, ein Perser und ein irakischer Christ zusammenzimmern, muss | |
ruhen, wenn der Strom wieder mal ausfällt. Mal kann ein Darsteller zwei | |
Tage nicht zur Probe kommen, weil er in der kurdischen Hauptstadt Erbil | |
Arbeit bekommen hat. Ein anderer steigt ganz aus, weil seine Eltern nach | |
Syrien zurückgehen und er sich um seine beiden Schwestern kümmern muss. | |
Andererseits: Das Auswärtige Amt hat finanzielle Unterstützung zugesagt, | |
und nach einem Ortstermin im Hauptquartier des UN-Flüchtlingshilfswerks | |
(UNHCR) wurden von NGOs bis hin zum Geheimdienst alle aufgefordert, das | |
Projekt zu unterstützen. Dieser Support ist notwendig, denn nach der | |
Premiere will die Gruppe auch in den drei großen Flüchtlingscamps der | |
Stadt spielen: Die Darsteller wollen den anderen, denen es weniger gut geht | |
als ihnen, etwas geben. | |
## Talent, Hoffnung zu geben | |
Für Otteni ist der Aufenthalt im Nordirak nicht der erste Einsatz für | |
Geflüchtete. Vor zwei Jahren war er für mehrere Wochen auf Lesbos. Dort | |
galt er als einer, der nichts kann. Er war kein Schreiner, kein Arzt. | |
„Immerhin, ich konnte gut Suppe kochen.“ Für ihn stellte sich danach die | |
Frage: „Wie kann ich mit meinen Talenten helfen?“ Im Nordirak stellt er | |
fest: „Ich bin noch nie so gebraucht worden wie hier.“ Tatsächlich sieht | |
Otteni nach den ersten Probewochen Erfolge. Frei vom sozialen oder | |
religiösen Druck, der allzu oft den Alltag der Menschen hier bestimmt, | |
erlaubt ihnen die Bühne, anders Lebenden, anders Glaubenden spielerisch zu | |
begegnen. Besonders gut gelinge es in der Arbeit mit Kindern, Respekt zu | |
vermitteln. | |
Die Proben geben ihnen das, woran es in Zeiten von Krieg und Vertreibung am | |
meisten mangelt: Hoffnung. „Je mehr Sinn sie in ihrem Leben hier sehen, | |
umso weniger kommen sie auf die Idee, einen Schlepper zu bezahlen.“ Die | |
meisten wollen auch gar nicht nach Deutschland, glaubt Otteni, sondern | |
bleiben lieber in ihrem Kulturkreis. | |
Hoffnung, die gibt es bis zum letzten Atemzug – das ist für Navid Kermani | |
eine der großen Lehren aus Pater Paolos Schriften, dem verschleppten | |
Gründer der Gemeinschaft von Deir Mar Musa. Am Tag nach der Entführung von | |
Pater Jacques strömten die Muslime von Qariatain ungefragt in die Kirche | |
und beteten für ihn. „Das muss auch uns Hoffnung geben“, sagte Kermani bei | |
seiner Friedenspreis-Rede in Frankfurt, „dass die Liebe über die Grenzen | |
der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus wirkt.“ | |
21 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Kriss Rudolph | |
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