# taz.de -- Theater von Geflüchteten in Berlin: Ein Stück Selbstermächtigung | |
> Vier Geflüchtete und ein Deutscher entwerfen in einem Theaterstück die | |
> Vision eines demokratischen Syrien. Aufführungen am Mittwoch und | |
> Donnerstag. | |
Bild: Perspektivwechsel auf der Bühne: Ein deutscher Asylbewerber wird von syr… | |
Fünf Männer marschieren selbstsicher und schnellen Schrittes durch eine | |
Tür. Sie tragen schwarze Anzüge und reihen sich vor einer | |
grün-weiß-schwarzen Flagge mit fünf roten Sternen auf. Dann fangen sie an, | |
lauthals zu singen. Eine Hymne, die derart euphorisch vorgetragen wird, | |
dass man mitschreien möchte – würde man ihre Sprache kennen. Doch auch wer | |
kein Arabisch kann, versteht ein Wort: Sūriyya! Syrien! | |
Als die Männer fertig sind, stellen sie sich vor: „Wir sind die neue | |
syrische Regierung!“ Applaus und Jubel im Publikum. Dann verlesen der | |
Außenminister Ayman Hisnawi, dessen Bruder Ayham Hisnawi, Minister für | |
Bildung und Forschung, Medo Ashor, Minister für Inneres und Finanzen, | |
Abdulrahman Saleem, Minister für Justiz, Religion und Menschenrechte, und | |
Alexander Schröder, der Minister für Sicherheit und Verteidigung, das | |
„Grundgesetz der neuen syrischen Republik“: Artikel 1: Kein Mensch ist | |
illegal. Artikel 2: Niemand darf jemand anderem vorschreiben, wie er zu | |
leben hat. 17 weitere Artikel folgen – radikal-demokratisch. | |
Wäre es nur so einfach, denkt man unweigerlich beim Anblick ihrer | |
optimistischen Proklamation. Doch noch bevor der Gedanke verflogen ist, | |
beginnen die frisch gebackenen Exilminister über die richtige | |
Vorgehensweise zu streiten. Sie wollen ein neues, demokratisches Syrien aus | |
einem Land erschaffen, in dem schon seit über sechs Jahren ein grausamer | |
Bürgerkrieg wütet. Eine Sisyphusaufgabe. | |
Auf die anfängliche Euphorie folgt also Ernüchterung: In dem Stück „Die | |
neue syrische Regierung. Wer sonst“ inszeniert von der Theatergruppe „Nie | |
wieder Tempelhof“ streiten die Exilminister darüber, ob ein demokratischer | |
Wandel gewaltfrei geschehen kann. Es sind auch Ansichten über Religion, die | |
einander widersprechen: Einer will ein Gotteshaus errichten, in dem sich | |
Menschen verschiedener Konfessionen zum gemeinsamen Gebet treffen. | |
Ein anderer widerspricht aufgebracht: „Religion ist schuld an allen | |
Konflikten!“ Die Diskussion dreht sich im Kreis. Drei Mal. Eine Einigung? | |
Gibt es nicht. Es bleiben weitere offene Fragen: Wie soll die Macht im | |
Staat verteilt werden? Wie soll man die Einwanderung regeln? Szenen des | |
Streits und Momente des Kompromisses wechseln sich ab, dazwischen wird | |
gerappt, gesungen, getanzt, auf Deutsch und Arabisch. | |
## Wechsel der Perspektive, Verarbeitung des Erlebten | |
Auch ihre eigenen Erlebnisse in Deutschland verarbeiten die vier | |
geflüchteten Männer aus Syrien in dem Stück. Sie spielen etwa nach, welche | |
Zumutungen die Geflüchteten in den deutschen Behörden über sich ergehen | |
lassen müssen – jedoch wechseln sie dazu die Perspektive: Bei ihnen stellt | |
ein Deutscher einen Asylantrag in Syrien. Er wird abgelehnt, weil die | |
Beamten ihn missverstehen oder missverstehen wollen. Eine Szene über | |
behördliche Willkür – mit Witz gespielt ist die Aussage eindeutig. | |
Die Szenen seien unabhängig voneinander entstanden, sagt Alexander aka Ali | |
Schröder nach der Aufführung. Der Schauspieler, Regisseur, Dozent an der | |
Universität der Künste ist Initiator der Theatergruppe. Das Stück haben sie | |
alle zusammen geschrieben und jeder habe etwas dazu beigetragen. | |
Persönliche Erlebnisse, aber auch Politisches, mit Blick auf die Zukunft | |
ihres Herkunftslands. | |
Schröder erzählt, wie er einst im ehemaligen Tempelhofer Flughafen Kontakt | |
zu theaterinteressierten Geflüchteten aufnahm und später dann Theaterabende | |
im Kinderraum der provisorischen Flüchtlingsunterkunft organisierte. In | |
den ersten beiden Inszenierungen der Gruppe, „Einskommazweiquadratmeter“ | |
und „Hangar 6 – ein Jahr in Deutschland“, standen biografische | |
Auseinandersetzungen im Vordergrund. Fragen wie: Wo bin ich? Wo will ich | |
hin? Dann wollten sie weg von eigenen Befindlichkeiten, nicht mehr nur | |
„Flüchtlingszeug“ machen, sagt Schröder. Größer, politischer denken. So | |
entstand „Die neue syrische Regierung“. | |
Vor zwei Jahren kamen die vier Männer, die zwischen 18 und 24 Jahre alt | |
sind, aus Syrien nach Deutschland. In Berlin gehen sie ihre eigenen Wege, | |
arbeiten im IT-Bereich, einer kellnert in einem Café, ein anderer leitet | |
bereits eine eigene Theatergruppe mit neu ankommenden Geflüchteten. Keiner | |
wohnt mehr in Tempelhof. Was sie aber immer noch beschäftigt, ist die | |
Frage, was in ihrer Heimat passiert. „Als ich in Deutschland angekommen | |
bin, hatte ich das Gefühl, ich muss herausfinden, warum dieser Krieg | |
ausgebrochen ist“, sagt Ayham Hisnawi. | |
## Auf der Suche nach einem neuen Syrien | |
Das Theaterstück ist auch ein Stück politischer Selbstermächtigung, die | |
Freiheit, über ein neues Syrien nachzudenken. Diese Verantwortung selbst zu | |
übernehmen, das trauen sich viele andere Geflüchtete aus Syrien nicht zu. | |
Die Theatergruppe sei ihnen zu politisch. Zu gefährlich, so Hisnawi. Als er | |
dies beim Publikumsgespräch erzählt, schauen sein Bruder Ayman und die | |
anderen bedrückt in die Runde. | |
Später erzählt Hisnawi, wie sie einmal bei Ali Schröder im Wohnzimmer saßen | |
und dieser sie fragte: „Von welcher der Parteien in Syrien fühlt ihr euch | |
repräsentiert?“ Die Männer antworteten: „Von keiner“. Dann dachten sie | |
sich: „Dafür müssen wir eine Lösung finden.“ Die „neue syrische Regier… | |
sucht nach dieser Lösung. Wer sonst? | |
20 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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