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# taz.de -- Theaterperformance „Tin Pit“: Heimat, neu erträumt
> Der syrische Autor und Regisseur Wasim Ghrioui erzählt Geschichten aus
> einem geschmähten Viertel von Damaskus, in dem er selbst aufgewachsen
> ist.
Bild: Warum starren Sie mich so an? Schauspieler Paul Wollin in der Performance…
HANNOVER taz | Alles multi – zusammengemixt wie beim Vielfruchtsaft. Nur
ohne Zuckerzusätze. So soll die Uraufführung funktionieren. Multilingual
kommt sie erst mal daher. Französisch, Arabisch, Deutsch und Musik sind die
artikulierten Sprachen.
Aus dem Bühnendunkel erhebt sich anfangs Scatgesang auf einem pulsierenden
Beat. Die syrische Sopranistin Dima Orsho spielt in arabischer Tonsprache
mit derselben Melodie wie die tschechische Violinistin Lenka Župková, als
moderne Klassikeinschübe designt sie ihre Interpretation. Mit trocken
vibrierender Intonation klinkt sich der syrische Trompeter Milad Khawam in
Cool-Jazz-Manier ein.
Drei Musikkulturen lümmeln dabei nicht auf dem west-östlichen Divan herum,
sondern finden harmonisch miteinander verzahnt zusammen. Und sollen im
Folgenden mit Videoprojektionen, einer Lesung und einem Schauspielmonolog
zur sehnsüchtig rückwärts und vorsichtig vorwärts gewandten
Multikultiperformance verschmelzen. In dieser von Land, Stadt und Sponsoren
multigeförderten Produktion „Tin pit“, ein Gastspiel des hannoverschen
Ensembles Megaphon an der hannoverschen Staatsoper.
Nach der Ouvertüre entwindet sich der Berliner Schauspieler Paul Wollin
räuspernd einem Wolldeckenhügel. Guckt ängstlich fragend ins Publikum: Wo
bin ich? Und sagt: „Warum starren sie mich so an?“ Ändert sofort den
Gesichtsausdruck und wirkt stolz: Ich bin hier. Ein Geflüchteter. Aus
Syrien. Eine Bühnenfigur, mit der der Autor und Regisseur Wasim Ghrioui das
Theater zu Migrationsthemen poetisieren will.
Nicht Fluchtgründen wird ein menschliches Antlitz verliehen. Sondern das
unwiederbringlich zerstörte Sozialgefüge im Kiez von Ghriouis Kindheit ist
Anlass für die Rekonstruktion von Heimat.
Diesen Ort eignet er sich neu an, indem er ihn erfindet. Schreibt
einerseits von der identitätssichernden Einbindung in beruhigend
Vertrautes, anderseits vom Ausgeliefertsein an die Schrecken einer
übermächtigen Tradition, der das Individuum zu entkommen sucht.
Unerträgliche Zumutung trifft auf erträumtes Aufgehoben-Sein.
Wollin spielt Ghrioui – dessen Coming-of-Age-Story im Tin pit, der
Zinngrube, Schrottplatz würden wir sagen. Ein islamisches Armenviertel in
Damaskus. Kauzige Kinderspiel-Episoden aus der fantasierten Vorkriegszeit
sind zu hören. Als wäre es jüdische Schtetl-Literatur.
Auch werden verzweifelt um Nähe bemühte Vater-Sohn-Momente ausgeführt. Viel
Zeit nimmt die Entjungferung im Bordell ein. Entwürdigungen beim Militär
und der Tod des Vaters erheben sich aus der oberflächlichen Idyllisierung.
Darunter liegen Hass und reichlich Brutalität.
Abschätzig wird von Flüchtlingen gesprochen, die das Viertel verslumt
hätten. Und von gierigen Spekulanten, die es gentrifizieren wollten. Vom
Alltag heißt es: „Wir werden von den Eltern zu Hause verdroschen, in der
Schule geschlagen, auf der Straße, von unseren Freunden, unseren großen
Brüdern, von der Polizei. Wir werden so lange geschlagen, bis wir
verstehen, dass Gewalt eine Art von Sprache ist, die sich vererbt.“ Und
eine Studentin, die „heimlich einen Witz über den Präsidenten erzählt“,
wird von der Geheimpolizei abgeführt.
## Immer wieder Nostalgie
Eine Lektion, die sich in die Köpfe der Bewohner eingebrannt hat: „Niemals
über Politik reden.“ Immer wieder legt sich Nostalgie auf die Schrecknisse.
Etwa die Anekdoten über den riesigen Hahn der Tante Wahida. „Seine
bevorzugte Beute sind kleine Kinder, die er mit einem Hieb umwerfen kann.
Ein weiteres Ziel seiner Feindseligkeit sind die ausladenden Ärsche der
Frauen.“ Auch mit dem Muezzin der Al-Iman-Moschee liegt er im Wettstreit.
Übertönt den Gebetsruf am Morgen und jedes „Allahu akbar“ mit Kikeriki. D…
Ende ist vorhersehbar: Auf Reis gebettet, schön kross gebraten wird er den
Kindern serviert.
Wollin setzt sich zum Erzählen an einen Rezitationstisch und liest mit der
sonoren Kraft seiner Heiserkeit vor wie bei einer Hörbuchproduktion – oder
spricht das Publikum direkt wie ein Comedian an. Nur ohne lachanimierende
Pointen.
## Kommentare der Musiker
Ab und an kommentieren die Musiker*innen den Vortrag, legen auch mal
Gruselmusik unter die Worte. Im Bühnenhintergrund laufen derweil
computeranimierte Bilder der geträumten Heimat. Eine mittelalterlich
beengte, romantisierte Siedlung aus schrullig gebastelten, halb fertigen,
halb verfallenen Gebäuden. „Ein Gemisch von Ziegeln, Zement, Holz, Stein,
Blech und alten Bauelementen.“
Die Ärmlichkeit hat der Bilderbastler Matze Görig bunt angemalt und
botanisch überwuchert, die Schäbigkeit der Immobilien durch Lichteffekte
ins Geheimnisvolle gewendet. Und das Elendsambiente mit funkelndem
Sternenhimmel überwölbt. Auch Friedenstauben flattern vorüber. Für die
Szenen beim Militär werden Bunker im Schnee projiziert. Menschen muss man
hineinimaginieren.
Die märchenhaften Bilder ergänzen prima die surrealen Geschichten voll
herber Realitätseinsprengsel. Bis Tin pit in der Gegenwart ankommt. Orsho
stimmt einen Trauergesang an, während Wollin von Bekannten berichtet, die
in Aleppo zu Tode gebombt wurden. Heimat ist plötzlich dort, wo schon Ernst
Bloch sie vermutet hat: worin noch niemand war. Jetzt im Exil beginnt die
Suche erneut.
„Seit ich in Deutschland bin, werde ich begafft. So wie jetzt von Ihnen.
Mit weit aufgerissenen Augen, die mir schweigend folgen. Sie beäugen diesen
vor 1.000 Tagen durch einen einzigen Stempel neu geborenen Fremden“, sagt
Wollin ans Publikum gewandt.
Auch wenn die Aufenthaltsgenehmigung nicht die fabulierte Erinnerung des
Autors Ghrioui und seine Sehnsucht nach der Sonne besiegen kann: In die
deutsche Kultur ist der Regisseur Ghrioui schon bestens integriert – und
lässt final mit Worten Bert Brechts improvisieren: „Was geschehen ist, ist
geschehen. Das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst du / Nicht mehr
herausschütten, aber / Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem
letzten Atemzug.“
Ein bescheidener, trotz des überzeugenden Konzepts vielfach zu zaghafter,
zu wenig interaktiver Abend – aber anregend, weil vielschichtig Disparates
einander angenähert wird.
3 Apr 2018
## AUTOREN
Jens Fischer
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Politisches Theater
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