# taz.de -- Theater im Libanon: Raus aus der Opferrolle | |
> Kann man Kunst nutzen, um Opfern von Gewalt zu helfen? Zoukak, ein | |
> Theater aus Beirut, arbeitet so seit mehr als zehn Jahren. | |
Bild: Ein Workshop mit Kindern von der Kompanie Zoukak | |
Eine große Straßenkreuzung, gegenüber das Quartier eines Zirkus, im | |
Nebenhaus eine Autoreparaturwerkstatt – die unmittelbare Umgebung der neuen | |
Spielstätte des Theaters Zoukak ist rau, wie so manches in Beirut. Klettert | |
man über die kleine Außentreppe hoch in den ersten Stock, entfaltet sich | |
aber sofort der Zauber des Theaters. | |
Eine lange Bar erscheint, rote Polstermöbel im Raum. Auch der benachbarte | |
Bühnenraum enthält einen roten Vorhang. Zoukak wagt einen Spagat, den sich | |
selbst Deutschlands Leuchttürme der Freien Darstellenden Kunst nur äußerst | |
selten trauen: die Verknüpfung von gediegenem Interieur mit | |
Avantgardekunst und politischem Anspruch. | |
Anfang Dezember wurde die neue Spielstätte mit „The Jokers“ eröffnet, ein… | |
Stück über Randfiguren der Gesellschaft, die im Showgeschäft ihr Auskommen | |
finden. „The Jokers“ handelt von Sexualität jenseits des Mainstreams und | |
ist auch eine Erinnerung an Beiruts lebhafte Cabaret-Szene vor dem | |
Bürgerkrieg. „An die Stelle der Cabarets sind heutzutage die ‚Super Night | |
Clubs‘ getreten, Läden, in den Livemusik gespielt wird, aber auch Lap Dance | |
und Prostitution zum Geschäftsmodell gehören“, erzählt Junaid Sarieddeen, | |
Regisseur, Schauspieler und Mitbegründer von Zoukak, beim Besuch in ihrem | |
Theater. | |
## In Frankreich ausgezeichnet | |
Eine erste Version von „The Jokers“ wurde im Oktober bereits in Bordeaux | |
gezeigt, bevor die Heimpremiere im Libanon folgte. Dazwischen, ebenfalls in | |
Frankreich, eine Preisverleihung. Die Truppe erhielt den Culture for Peace | |
Award der Jacques-Chirac-Stiftung in Anwesenheit von Frankreichs | |
Staatspräsident Emmanuel Macron. Pikanterweise war zum gleichen Zeitpunkt | |
auch Libanons halb zurückgetretener Premierminister Saad Hariri in der | |
französischen Hauptstadt. Ein kleiner welthistorischer Moment. | |
Zoukak bekam die Auszeichnung für mehr als eine Dekade Arbeit als Kunst- | |
und Theatertherapeut für Kriegsopfer und andere Benachteiligte im Libanon. | |
Alles begann 2006, zum Zeitpunkt der Besetzung des Libanon durch Israel. | |
„Ein Compagnie-Mitglied, Lamia Abi Azar, entwickelte einen ganz eigenen | |
Ansatz von Drama-Therapie. Sie ist Psychologin und Künstlerin und verband | |
klinische Psychologie mit Methoden des experimentellen Theaters und | |
Arbeitsweisen des sozialen Theaters. Wir begannen damals mit Menschen, die | |
aus ihren Wohnungen geflohen waren und in Schulen und auf öffentlichen | |
Plätzen kampierten“, blickt Sarieddeen zurück. | |
Später folgte ein Projekt im Süden Libanons, mit Menschen, die Freunde und | |
Familienmitglieder durch den Krieg verloren hatten. „Es war ein Projekt zum | |
Thema ‚Verlust‘. Wir arbeiteten direkt mit den Kindern und machten | |
Weiterbildungsworkshops mit den Lehrern“, erläutert Sarieddeen. | |
## Spannungen im Flüchtlingscamp | |
Kurz darauf folgte ein Projekt im Norden des Landes mit Palästinensern, die | |
durch die libanesische Armee aus dem Nahr- al-Bared-Camp vertrieben wurden | |
und ins Beddawi-Camp flüchteten. „Dort waren dann de facto zwei Camps in | |
einem, die Neuankömmlinge und die alten Bewohner, was ebenfalls zu | |
Spannungen führte“, berichtet Sarieddeen. „Uns geht es dabei nicht um | |
Heilung. Wir können ja nicht ungeschehen machen, was bereits passiert ist. | |
Es ist vielmehr unser Anliegen, bei den Beteiligten Kompetenzen aufzubauen, | |
ihnen einen Raum zu ermöglichen, um Emotionen auszudrücken, sich selbst | |
wahrzunehmen und eine Souveränität zu erreichen, die es ihnen in Zukunft | |
erlaubt, gute Entscheidungen zu treffen“, erklärt Sarieddeen. | |
Zoukak entwickelte zudem Projekte mit Insassen von Jugendgefängnissen, mit | |
körperlich und kognitiv eingeschränkten Personen sowie, lange vor der | |
#metoo-Bewegung, mit Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten. Die Truppe | |
arbeitete dabei eng mit Kafa zusammen, einer NGO, die Libanons Parlament zu | |
einem Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung häuslicher Gewalt trieb. Große | |
Aufmerksamkeit erregte in diesem Zusammenhang die Straßentheaterperformance | |
„Nes Bsamneh W Nes Bzeit“. In Form einer Hochzeitsprozession, deren | |
Charakter sich mit der einer Beerdigung vermischte, dokumentierte die | |
Truppe mit überlebensgroßen Figuren Übergriffe auf Frauen, die von Kafa | |
belegt waren. | |
## Die Kraft, Dinge zu verändern | |
Für Sarieddeen ist die jahrelange Arbeit an diesem Themenkomplex ein | |
Beispiel dafür, was Drama-Therapie erreichen kann. „Die Frauen, mit denen | |
wir gearbeitet haben, hatten allesamt Gewalterfahrungen erlitten. Über die | |
Workshops jedoch haben sie sich nicht mehr allein als Opfer begriffen, | |
sondern sind Aktivistinnen geworden, mit der Kraft, Dinge zu verändern“, | |
konstatiert er. | |
Das Tätigkeitsfeld von Zoukak ist nicht nur auf den Libanon beschränkt. | |
„Wir waren dreimal im berühmt-berüchtigten ‚Jungle‘ von Calais, dem Ref… | |
Camp am Ärmelkanal. Wir waren dabei, als zwei britische Künstler den ‚Dome | |
of Good Chance‘, ein Kulturzentrum mitten im Camp, aufbauten und haben | |
ihnen dabei geholfen. Niemals vergessen werde ich die Show in der | |
Silvesternacht 2015. Wir erarbeiteten mit den Bewohnern Musikprogramme und | |
begannen ab 18 Uhr jeweils alle 30 Minuten den Anbruch des neuen Jahres in | |
den Herkunftsländern zu feiern. Alle halbe Stunde eine neue Zeitzone und | |
ein neues Neujahr. Es war eine unglaubliche Energie dort“, blickt | |
Sarieddeen zurück, und allein die Erinnerung daran strafft seinen Körper | |
und macht die Augen leuchten. | |
Mittlerweile ist das Camp geräumt, der Dom abgebaut. Auch ein | |
Friedenspreisträger der Chirac-Stiftung kommt nicht gegen französische | |
Gendarmerie an. Besonders absurd aus libanesischer Sicht ist der Abbau des | |
Kulturzentrums. Im Libanon werden Spendengelder in Millionenhöhe bewegt, um | |
Community Centers in syrischen Flüchtlingscamps als Orte der Begegnung, | |
Bildung und Hoffnung zu etablieren. Und in Europa zerstört die Polizei | |
eines, das in Privatinitiative entstanden war. | |
## Spott für Flüchtlingspolitik | |
Zoukak hat auch eigene Erfahrungen mit der syrischen Flüchtlingswelle im | |
Lande gemacht. „Natürlich waren wir solidarisch, haben mit syrischen | |
Künstlern zusammengearbeitet. Du bist ihnen ja in den Cafés begegnet. Die | |
Hälfte der Café-Besucher in Beirut waren Künstler aus Syrien“, lacht | |
Sarieddeen. Die Truppe trieb aber auch ihren Spott über all das Geld, das | |
auch im Libanon für syrische Geflüchtete bereitgestellt wird. | |
„Es war ja trendy, Syrer zu sein und Projekte mit Syrern zu machen. Mit | |
einem syrischen Freund, mit dem wir sowieso zusammengearbeitet haben, | |
entwickelten wir das Stück ‚I Hate Theatre I Love Pornography‘. Eine | |
Theatertruppe entschließt sich aus wirtschaftlichen Gründen, ein | |
Pornostudio zu werden. Pornografisch ist schließlich die Lust an den | |
Gewaltbildern, an Enthauptungsvideos und Darstellungen von Massakern“, so | |
Sarieddeen. | |
Eine Attraktion dieser Pornofirma war dann eben auch der syrische Performer | |
Abdullah al-Kafri. Zentrale Botschaft des Stücks, zentraler Bestandteil | |
auch der Workshops von Zoukak ist der Wille, sich aus der vom globalen | |
Norden gern zugeschriebenen Rolle des Opfers zu befreien. „Menschen allein | |
als Opfer zu behandeln ist gefährlich. Man sediert sie. Es ist eine | |
ähnliche Wirkung wie die von Drogen“, meint Sarieddeen. | |
Mit ihrer Kompetenz im Vermeiden der Opferhaltung könnte Zoukak bald auch | |
in Deutschland Akzente setzen. Beantragt ist im Rahmen des | |
Doppelpass-Programms der Bundeskulturstiftung die Zusammenarbeit eines | |
deutschen Stadttheaters, der Berliner Regisseurin Lydia Ziemke, die seit | |
Jahren mit Künstlern im arabischen Raum zusammenarbeitet, und eben Zoukak. | |
Geplante Programminhalte sind etwa die Weiterentwicklung von „I Hate | |
Theatre I Love Pornography“ und ein neues Stück über die Flucht eines | |
Mädchens aus dem Libanon nach Europa. Es wünscht sich dort, frei zu sein. | |
21 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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