# taz.de -- Braunschweiger Staatstheater am Meer: Aufbrüche ins Uferlose | |
> Dagmar Schlingmann ist neue Chefin am Staatstheater Braunschweig. Der | |
> Spielzeit-Auftakt ist durchwachsen: Jugendstücke gelungen, auf der großen | |
> Bühne gescheitert | |
Bild: Reise ins Ungewisse: „Stella Incognita“ ist ein gelungener Auftakt f�… | |
BRAUNSCHWEIG taz | Ein abenteuerlustiges Motto gibt Dagmar Schlingmann für | |
ihr erstes Jahr als Staatstheaterintendantin aus: „Braunschweig liegt am | |
Meer“. Um Aufbrüche ins Uferlose geht es also. Regisseur und Autor Nils | |
Zapfe formuliert das zur Eröffnung der Jugendsparte um, in „Sehnsucht nach | |
der Zukunft – Heimweh nach der Fremde“. Und lässt ein Schiff starten – e… | |
Raumschiff: „Stella incognita“. Zwischen zwei Zuschauertribünen ist es | |
trashig inszeniert mit allem möglichen Krimskrams aus der Requisitenkammer. | |
Ironischen Futurismus verströmt auch das dadaistische Technik-Kauderwelsch. | |
Der Menschen Zukunft auf dem Mars wollen die Astronauten-Darsteller | |
vorbereiten, sind von Entdeckerlust beseelt und von Optimismus berauscht. | |
Ihr Treiben im Raumschiff wird per Live-Videoschaltung auf seine Außenhaut | |
übertragen. Kauzig wie die Besatzung an Dreh- und Druckknöpfen eines | |
Synthesizer-Prototypen prähistorischen Techno improvisiert und | |
interplanetarische Singer-Songwriter-Kunst darbietet. Hinreißend wie es | |
Schwerelosigkeit improvisiert und nebenbei Klassiker des | |
Science-Fiction-Genres zitiert. | |
Aber plötzlich (Achtung Spoiler): Stromausfall. Einbruch der Realität in | |
die Kunstproduktion? Bei Notbeleuchtung werden Nachrichten verkündet, die | |
auf eine unheimliche Begegnung mit der dritten Art mitten in Braunschweig | |
schließen lassen. Da funktioniert sie wieder, die Illusionsmacht des | |
Theaters. Viele junge Zuschauer glauben an das Szenario, sind verängstigt, | |
irritiert, neugierig erregt. Und ehrlich geradeaus. | |
Die Schauspieler schwanken zwischen fortgesetztem Rollenspiel und | |
sozialpädagogischer Ansprache. Kommen mit dem Publikum ins Gespräch, wie | |
mit den Fremden da draußen umzugehen sei. Hallo sagen, nach Hause einladen, | |
weglaufen, erschießen? Die höchst aktuelle Debatte wird virulent in | |
kindlich prästabilen Überzeugungen. So verspielt, so nachhaltig anregen – | |
das ist im kleinen „Haus 3“ eine höchst gelungene Reise ins Ungewisse. | |
Für die größeren der jungen Zuschauer wagt sich Tim Tonndorf dann im | |
größeren Kleinen Haus auf ganz hohe See, um „Moby Dick“ zu angeln. Im | |
riesigen Opernhaus sagt schließlich die Intendantin Ahoi mit der Geschichte | |
eines Kapitäns im Ruhestand. In seinem „Haus der gebrochenen Herzen“ | |
treffen sich Töchter, Freundinnen und Liebhaber. George Bernhard Shaw | |
wollte mit dem Stück mit der englischen Bourgeoisie vor dem Ersten | |
Weltkrieg abrechnen – im Komödienstil einer Tschechow’schen Elegie, | |
allerdings zornig aufgeschäumt und mit dezenter Antizipation des absurden | |
Theaters. | |
Das könnte man in Fin-de-Siècle-Stimmung schwelgend auf die Bühne bringen – | |
die Wehmut-Clique wäre ein prima Vehikel für großes Schauspielertheater, | |
zur Vorstellung des neuen Ensembles. Aber so leicht macht es sich | |
Schlingmann nicht. Ausstellen statt einfühlen lautet das Konzept. Die | |
Regisseurin spitzt zu, damit das nervtötende Weiter-so der antriebslos | |
nichtsnutzigen Protagonisten auch wirklich die Nerven der Zuschauer | |
angreift. So entsteht kein leicht zu bejubelndes Vintage-Wohlgefühl. Mutig | |
– aber auch ein toller Theaterabend? | |
Auftritt der genervten Amme. Sie gehört als Einzige nicht zur Snob-Familie | |
des weltentsagenden Kapitäns, ist distanziert kommentierende Mittlerin | |
zwischen Bühnengeschehen und Publikum. Bringt Stichworte zu aktuellen | |
politischen Debatten ein. Und mit betont beiläufigen Zaubertricks zudem | |
etwas Leben in die trostlose Bude. Diese sei ein zivilisatorischer Skandal, | |
behauptet die Amme. Während sich die Welt vor der Haustür zugrunde richtet, | |
gefällt sich dahinter die müßig verfeinerte Gesellschaft in | |
Gleichgültigkeit. Und ist davon auch schon ziemlich erschöpft. | |
Shaws Figuren werden nicht psychologisch durchdrungen, sondern auf | |
Rollenklischees reduziert und mit einem zappelig dargebotenen Repertoire an | |
phrasenhaften Gesten extemporiert. Tobias Beyer gibt im martialisch sonoren | |
Tonfall gleich eine Doppel-Karikatur: einen aufgeblasenen Kapitalisten und | |
zynischen Politiker, ständig am Golfen und onanierend den Schläger | |
betätschelnd. Ein langmähniger Altrockstar-Typ fläzt sich flötend ins Bild. | |
Die Frauen, selbst ernannte „Enkelinnen des Teufels“, sind dagegen so | |
gefühlsimmun und versuchen, wenigstens andere emotional aufglühen zu | |
lassen, um sich daran zu wärmen. Haben also nichts anderes im Sinn, als | |
Männer, am besten die reichen, in sich verliebt zu machen. Sie bemuttern | |
und bringen sich als Sexobjekt in Stellung. Als Dank wird zum | |
Geschlechtsakt geschritten. Was im Stil der Inszenierung bedeutet: | |
aufeinander springen, Bücherstapel umwerfen und Porno-Stöhnen anstimmen. | |
So lange sie die Männer so in der Hand haben, meinen die Frauen, sei es | |
ihnen egal, dass diese im öffentlichen Leben die Macht haben. Also wuscheln | |
sie weiter in ihren Haaren, eine erotisch gemeinte Marotte, bewegen sich | |
dazu wie eine Schlangentänzerin oder Grand Dame. Jede Selbstdarstellung ist | |
eine offen zur Schau getragene Lebenslüge. Herzen können dabei gar nicht | |
brechen, weil sie gar nicht schlagen. | |
So bietet das Ensemble zwei Akte lang im ermüdenden Gleichmaß nur Leerlauf. | |
Unmöglich, die Klugheit der Vorlage mit der Realität anno 2017 | |
abzugleichen. „Das Leben muss doch einen Sinn haben“, fordert schließlich | |
die Jüngste der Frauen, die anderen schlagen vor: Mutter werden. Sie aber | |
heiratet den sterbenden Kapitän. Im dritten Akt dämmern alle nur noch in | |
morbider Stimmung vor sich hin. | |
Bis eine Untergangseuphorie anhebt. Endlich Weltkrieg. Der Lärm der | |
Bombenflieger wird mit Beethoven-Musik verglichen und begeistert empfangen. | |
Es lockt Befriedigung der kollektiven Suizid-Lust. Alles höchst dramatisch, | |
eigentlich. In Braunschweig aber findet nicht mal das Shaw-Drama statt. | |
Ebbe. | |
Spielzeitauftakt im Staatstheater Braunschweig: „Haus der gebrochenen | |
Herzen“: Sa, 7. 10. 2017, 19.30 Uhr, Großes Haus; „Stella Incognita“: So, | |
8. 10., 15 Uhr, Haus Drei; „Moby Dick“: Di, 24. 10., 19.30 Uhr, Kleines | |
Haus | |
8 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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