| # taz.de -- Neue Regisseurin in Braunschweig: “Mich reizt die Energie des Neu… | |
| > Dagmar Schlingmann wechselt ans Braunschweiger Staatstheater. Die | |
| > Regisseurin über den Reiz des sich Messens, die Instrumentalisierung von | |
| > Geflüchteten und bürgerliches Selbstbewusstsein. | |
| Bild: Die neue Wirkungsstätte von Dagmar Schlingmann: Staatstheater Braunschwe… | |
| taz: Frau Schlingmann, Sie kommen vom Schauspiel. Wieso inszenieren Sie | |
| auch Opern? | |
| Dagmar Schlingmann: In meiner Kindheit und Jugend habe ich sehr viel | |
| Musiktheater gesehen, ursprünglich wollte ich Tänzerin werden. Diesen Plan | |
| musste ich aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Nach meiner Intendanz in | |
| Konstanz bin ich am Saarbrücker Dreispartenhaus wieder zur Oper gekommen. | |
| Ich mag es, so ein Haus als Ganzes zu denken. Für mich als Regisseurin | |
| heißt das auch, mich der Oper zuzuwenden, zumal es im Musiktheater | |
| spannende Entwicklungen gibt. | |
| Gilt das auch für Braunschweig? | |
| Ja, aber nicht in meiner ersten Spielzeit 2017/18. Zugleich im Büro und auf | |
| der Probe zu sein, fordert ja enorm. Im ersten Jahr werde ich mich auf | |
| meine Leitungsaufgaben konzentrieren und ein Schauspiel inszenieren. | |
| Wieso lassen Sie nach einem Jahrzehnt das Staatstheater Saarbrücken hinter | |
| sich? | |
| Ich habe bei vorherigen Angeboten immer wieder Nein gesagt, weil ich hier | |
| im Saarland große Themen abzuschließen hatte: die Bühnensanierung oder der | |
| Aufbau unserer Jugendarbeit und der partizipativen Projekte. Das habe ich | |
| abgeschlossen, jetzt bin ich zufrieden. Deshalb kommt Braunschweig zum | |
| richtigen Zeitpunkt. In meinem Beruf darf es keine Routine geben. | |
| Was interessiert Sie am Braunschweiger Staatstheater? | |
| Mich reizt die Energie des Neuanfangs: Braunschweig ist ein ganz anderer | |
| Standort. Dann das Theater mit seinen schönen Spielstätten, mit einem | |
| etablierten Jungen Staatstheater und guten Ressourcen. Mich auch das sich | |
| Messen an den Metropolen in der Nähe. Im Saarland ist das Staatstheater | |
| Saarbrücken das einzige Theater. | |
| Gibt es finanzielle Gründe? | |
| Das Budget in Braunschweig ist höher, es gibt mehr Personal. Das ist | |
| natürlich schön. Und es gibt ein Junges Staatstheater, das gibt es in | |
| Saarbrücken in dieser Form und Ausstattung nicht. Es war mir immer wichtig, | |
| Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen, neben Laienprojekten und weiteren | |
| partizipativen Angeboten für zukünftige Besucher. | |
| Wilfried Schulz wechselt mit Entourage von Dresden nach Düsseldorf, Joachim | |
| Klement von Braunschweig nach Dresden, Sie nach Braunschweig. Wer | |
| profitiert davon? | |
| Ich denke, dass die Theater davon profitieren, da mit jedem Wechsel neue | |
| Energie ins Haus kommt. | |
| Und wer leidet darunter? | |
| Wir werden immer an der Qualität und Relevanz unserer künstlerischen | |
| Produktion gemessen. Jeder Künstler weiß, dass ein Ensemble wandelbar | |
| bleiben muss, um ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft zu sein. Das | |
| Theater ist nun mal ein spezieller Betrieb. Ein Intendant ist deshalb | |
| abhängig von seinem Team, das er gut kennt, dem er vertraut, mit dem er | |
| eine gemeinsame Basis hat. | |
| Der designierte Volksbühnen-Intendant Chris Dercon geht davon aus, dass es | |
| in 20 Jahren keine separaten Häuser für verschiedene Künste mehr gibt, wie | |
| etwa das Museum für Kunst. Wie sehen Sie das? | |
| Jede Zeit gebiert ihre eigene Kunst. Man sieht auf einen Blick, dass die | |
| Häuser, in denen wir arbeiten, Zeugnisse des erwachenden bürgerlichen | |
| Selbstbewusstseins sind. Die Inhalte hingegen entstehen immer in | |
| Korrespondenz mit der Gegenwart. Anders kann ich Theater gar nicht denken. | |
| Gesellschaftliche Prozesse sind immer die Basis dafür, was zwischen den | |
| Figuren entsteht und wie sich die Kunstform des Theaters weiterentwickelt. | |
| Wie könnte diese spartenübergreifende szenische Kunst für Sie in | |
| Braunschweig aussehen? | |
| Sie wird sich als zusätzliches Format entwickeln. Ich bin keine Prophetin, | |
| aber ich bin davon überzeugt, dass es auch in 20 Jahren noch Oper, | |
| Schauspiel und Tanz gibt, ebenso wie das Performative zwischen den Grenzen. | |
| Aber diese Entwicklung wird durch die Künstler bestimmt, die auf | |
| gesellschaftliche Prozesse reagieren. | |
| Kann es bei dieser Entwicklung überhaupt noch feste Schauspielensembles | |
| geben? | |
| Ich bin nach wie vor eine Anhängerin fester Ensembles. Meine Erfahrung ist, | |
| dass man mit einer Gruppe weiterkommt, die sich vertraut und aneinander | |
| wächst. Darauf würde ich ungern verzichten, zumal die deutsche | |
| Theaterlandschaft mit ihren Staatstheaterkästen zwar sperrig, aber einmalig | |
| ist. Dieser Apparat ermöglicht sehr viel. | |
| Ihr Vorgänger Joachim Klement nimmt „Fast Forward“, das europäische | |
| Festival für junge Regie, mit nach Dresden. Wie wollen Sie diese Lücke | |
| schließen? | |
| Da mir dieser internationale Ansatz schon in Saarbrücken wichtig war, ist | |
| es für mich schade, dass das „Fast Forward“ nach Dresden umzieht. Die Lüc… | |
| soll zunächst bestehen bleiben, es braucht Zeit, um etwas zu entwickeln. | |
| Auch in Braunschweig, das ja mitten in Deutschland liegt, werden wir über | |
| den Tellerrand hinausschauen müssen. In Saarbrücken verabschieden Sie sich | |
| mit der Kollektivarbeit „La Révolution #1“. Was bedeutet Ihnen das? | |
| Oh, darauf freue ich mich schon. Dieses Stück von Joël Pommerat hat in | |
| Frankreich für Furore gesorgt. Wir Regisseure haben zwar alle dieselbe | |
| Bühne und dasselbe Ensemble, nach gemeinsamem Dialog wird jeder Regisseur | |
| aber an seinem eigenen Brocken arbeiten. Mit solchen Produktionen, die aus | |
| dem Schema fallen, halten wir unser Theater lebendig. | |
| In München eckt Matthias Lilienthal an, weil er Performance-Gruppen wie She | |
| She Pop an die Kammerspiele holt. Welchen Einfluss hat die freie Szene auf | |
| Ihre Ästhetik? | |
| Ich bin in Kontakt mit einer bekannten Performance-Gruppe, um etwas zu | |
| koproduzieren. Vernetzung finde ich interessant, weil freie Gruppen und | |
| Staats- oder Stadttheater sich wechselseitig starke Impulse geben. | |
| Diesbezüglich ist auch die Braunschweiger Hochschule für bildende Künste | |
| für uns ein interessanter Partner. Und nicht weit von Braunschweig ist die | |
| Hildesheimer Kulturwissenschaft mit ihrer Performing-Arts-Szene, auch das | |
| ist für uns eine wichtige Adresse. | |
| 2015 haben Sie „Brennpunkt X“ inszeniert, ein Stück über die Situation von | |
| Geflüchteten im Saarland. Werden Geflüchtete nicht einfach | |
| instrumentalisiert, um Image und Förderchancen zu steigern? | |
| Es ist eine Frage der Qualität, nicht der Quantität. Das Theater muss sich | |
| fragen: Was können wir tun, um einerseits geflüchtete Menschen zu | |
| unterstützen und sie andererseits angemessen am Theater partizipieren zu | |
| lassen? „Brennpunkt X“ war ein gutes, weil besonnenes und gründlich | |
| recherchiertes Projekt. Auch in Braunschweig gibt es eine konkrete Idee der | |
| nachhaltigen Zusammenarbeit mit geflüchteten Menschen. | |
| Tun sich die Theater mit dieser thematischen Konzentration auf Flucht und | |
| Migration einen Gefallen? | |
| Jedes Theater muss für sich schauen, was es leisten kann und wo es | |
| Schwerpunkte setzt. Erst dadurch kann sich ein Profil entwickeln. Der erste | |
| Impuls für ein Projekt muss aus dem Theater selbst kommen: Was können wir, | |
| was wollen wir damit erreichen? Einem Fördertopf hinterherzurennen, hat | |
| keinen Zweck. | |
| 6 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kornelius Friz | |
| ## TAGS | |
| Staatstheater Braunschweig | |
| Staatstheater Braunschweig | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Autor | |
| Schwerpunkt taz Leipzig | |
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