# taz.de -- Geflüchtete an Leipziger Kunsthochschule: Jeder Tag ist heute | |
> Seit Oktober sind zehn Geflüchtete immatrikuliert – eine Herausforderung. | |
> Vom Wirrwarr der Bürokratie und von Menschen, die ankommen wollen. | |
Bild: Die Kennenlernwoche bot die Möglichkeit, sich ein genaueres Bild von der… | |
Leipzig taz | Azad, Sara, Raisan, Musafer – es sind die Namen auf den | |
kleinen Schildern, über die ein aufmerksamer Besucher stolpern könnte. | |
Daneben an der Wand hängt ihre Kunst: Leinwände, Fotografien und Plakate | |
wie im gesamten Gebäude der Leipziger Kunsthochschule, der Hochschule für | |
Grafik und Buchkunst. Vier Tage lang stellen die rund 600 Studierenden zum | |
Semesterende hier aus. Darunter erstmals auch zehn Geflüchtete aus Syrien | |
und dem Irak. Seit dem vergangenen Oktober sind sie Studierende der | |
Akademie für transkulturellen Austausch, kurz ATA, die die Hochschule zum | |
Wintersemester gegründet hat. | |
Anders als Kunsthochschulen in Hamburg oder in Berlin-Weißensee, die | |
Geflüchtete als Gasthörer in ein Vorstudium aufnehmen beziehungsweise für | |
Aufnahmeprüfungen an Kunstakademien vorbereiten, wollte die Leipziger | |
Hochschule sofort einen regulären Studienplatz anbieten: „Geflüchtete haben | |
in der Regel ein bis zwei Jahre ihres Lebens verloren, in denen sie nicht | |
mehr studieren konnten, weil ihre Kunsthochschulen geschlossen oder | |
bombardiert wurden“, sagt Ralf Hartmann, Rektor der Hochschule. Bereits im | |
Herbst 2015 hatten sich Studierende, Professoren und Mitarbeiter | |
zusammengetan und auf ein langfristiges Hilfsangebot verständigt: die | |
Immatrikulation. | |
Welche Herausforderungen bringt eine solche Entscheidung mit sich? Und wie | |
gestaltet sich der Studienalltag für die, die nach ihrer Flucht nun wieder | |
Kunst studieren, an einer der renommiertesten deutschen Kunsthochschulen? | |
Über Facebook wurde das Angebot kommuniziert, Studierende bei | |
künstlerischer Eignung trotz noch fehlender Sprachkenntnisse ins Studium | |
aufzunehmen – 21 Bewerber kamen im Juli für eine „Kennenlernwoche“ nach | |
Leipzig. Einer von ihnen ist der 22-jährige Azad Ibrahim. Seit 2014 ist er | |
in Deutschland. | |
In Weißensee hatte er im vergangenen Frühjahr den Vorbereitungskurs | |
besucht: „Ich habe regelmäßig alle deutschen Kunsthochschulen gegoogelt, | |
weil ich hoffte, ein solches Angebot wie das in Leipzig zu finden.“ Konzept | |
der ATA ist ein gleitender Übergang innerhalb von zwei bis vier Semestern: | |
Sobald die Sprachkenntnisse nachgewiesen sind, etwa ausreichen, um eine | |
theoretische Arbeit zu schreiben, können die Geflüchteten ins Hauptstudium | |
zu einem Professor wechseln und ihr Diplom vorbereiten. | |
Eine Woche lang hatten Azad und die anderen Bewerber Zeit, um die | |
Hochschule kennenzulernen, Workshops im Fotostudio oder in Plakatgestaltung | |
zu belegen und sich damit auch auf den Eignungstest vorzubereiten. Viele | |
konnten dafür nicht die sonst übliche Mappe vorlegen, zeigten stattdessen | |
Handyfotos ihrer Kunst, die sie in Syrien und im Irak zurücklassen mussten | |
– sowie erste Ergebnisse aus den Workshops in Leipzig. Ein Übersetzer war | |
bei allen Gesprächen dabei. | |
## Eine langfristige Lösung fehlt | |
15 bestehen den Aufnahmetest. Manche von ihnen haben jedoch noch keinen | |
geklärten Aufenthaltsstatus und sind daher an Auflagen, etwa in Hinblick | |
auf ihren Aufenthaltsort, gebunden: „Wir immatrikulieren daher erst nach | |
dem positiven Asylbescheid, um sie nicht in die Situation zu bringen, eine | |
Ordnungswidrigkeit zu begehen“, erklärt Rektor Hartmann. | |
Die bereits Immatrikulierten haben zu Studienbeginn im Oktober ein ganz | |
anderes Problem: Mit der Immatrikulation sind alle bisherigen | |
Sozialleistungen weggefallen – eigentlich wäre das BAföG-Amt nun zuständig. | |
Doch da die Akademie selbst nicht mit einem berufsqualifizierenden | |
akademischen Grad beendet wird, kann die Ausbildung nicht gefördert werden. | |
Und Hochschulmittel dürfen das Loch nicht stopfen, denn die sind an die | |
künstlerische Lehre gebunden. Eine absurde Situation: Trotz Studienplatz | |
fehlt das Geld zum Kühlschrankfüllen und Straßenbahnfahren. Die Solidarität | |
Einzelner ist gefragt: Studierende kochen für die neuen Kommilitonen, | |
machen Platz auf WG-Sofas, es gibt zwei private Großspenden – was fehlt, | |
ist eine langfristige Lösung. | |
Azad Ibrahim ist inzwischen nach Leipzig gezogen, hat ein WG-Zimmer | |
gefunden und ist Sprecher der Akademie. „Das Schönste sind die neuen | |
Freundschaften, die wir machen“, sagt er. „Und wir können weitermachen und | |
arbeiten.“ Das Programm ist straff: Unter der Woche beginnt morgens um 8 | |
Uhr der Tag an der Sprachschule, insgesamt 22 Stunden in der Woche. Danach | |
besuchen die Studierenden Kurse im Grundstudium, in Fotografie, | |
Malerei/Grafik, Medienkunst und Buchkunst/Grafik-Design und stellen eigene | |
Arbeiten vor. | |
Raisan Hameed studiert jetzt Fotografie. Im September 2015 kam der | |
25-jährige nach Deutschland. Im Irak, in Mossul, hat er Malerei studiert, | |
aber immer auch als Fotojournalist gearbeitet. Im November zeigt er auf dem | |
Tisch im Klassenraum seine Fotos, Porträts, Alltagsbeobachtungen. Warum | |
sind diese Fotos alle schwarz-weiß? Die Frage der Professorin irritiert | |
ihn. „An meiner Uni im Irak gab es keine Fragen, keine Antworten, keinen | |
Text zu Kunstwerken, jeder sollte sie mit seinen Augen lesen, seine Meinung | |
dazu haben.“ | |
## Füße, teils blutverschmiert | |
Dieses andere Sprechen über Kunst, das inhaltliche Begründen formaler | |
Entscheidungen, ist für ihn neu – und auch das will er lernen. „Es gibt ein | |
größeres Angebot und viel mehr Kurse hier“, ergänzt Azad. In Damaskus hatte | |
er Bildhauerei studiert, nun interessiert ihn Medienkunst. Im Februar | |
stellte er in der Hochschule ein Video aus: Aufnahmen aus einem Dorf in | |
Syrien, in dem er als Kind viel Zeit verbracht hat. Daneben hat er drei | |
kleine Skulpturen gestellt – einzelne Füße, zum Teil blutverschmiert. | |
Die eigene Situation in Deutschland, das Leben in der Lücke zwischen Flucht | |
und dem Ankommen in Leipzig, es zieht sich durch die künstlerischen | |
Beiträge, die die Studierenden zum Semesterende präsentieren. Kinan Naem | |
hat ein Plakat zu seinem Sprachkurs gemacht: „Jeder Tag ist heute“, steht | |
da. Und: „Ich muss Deutsch lernen.“ Musafer Qassim Khalaf hat seine | |
Erlebnisse seit 2014 im Deutschkurs aufgeschrieben, mit Zeichnungen | |
illustriert und daraus ein zweiminütiges Video produziert. | |
Über das, was sie auf dem Weg nach Deutschland erlebt haben, sprechen sie | |
untereinander wenig: „Wir können das nicht wegschieben, das ist unsere | |
Geschichte“, erklärt Azad. „Aber das, was mir passiert ist, ist vielen | |
anderen auch passiert. Alle kommen aus dem Krieg, alle haben viele | |
schlechte Erfahrungen.“ Er will jetzt seine aktuellen Probleme in | |
Deutschland lösen. Zumindest finanziell sind die Sorgen bis zum Ende des | |
Jahres kleiner geworden. Über 140 Kunstwerke sind von Leipziger Künstlern | |
für eine Auktion der Hochschule gespendet wurden. Vor Weihnachten kamen so | |
31.400 Euro zusammen, die in monatliche Stipendien in Höhe von 600 Euro | |
verwandelt wurden. Eine Lösung auf Zeit. | |
Ende Januar konnte in einem Gespräch zwischen Vertretern der | |
Arbeitsagentur, der Hochschule, dem Studentenwerk Leipzig und dem | |
Staatsministerium geklärt werden, dass der Lebensunterhalt der Studierenden | |
durch Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II abgesichert werden kann. Das | |
heißt: Sie können in Leipzig Sozialhilfe beantragen und Leistungen | |
rückwirkend bis zum Datum des ursprünglich gestellten BAföG-Antrags | |
bekommen. Diese Lösung gelte langfristig, auch für künftige Bewerber, | |
erklärt das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst | |
gegenüber der taz. | |
## Die Lücken der Gesetze | |
28 Bewerbungen für das kommende Wintersemester haben Rayan Abdullah, | |
Professor für Typografie und Beauftragter für die Akademie, schon erreicht. | |
Abdullah stammt aus dem Irak, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland: | |
„Deutsche Gesetze sind großartig, aber in unserm Fall musste es eben darum | |
gehen, die Lücken in der Gesetzgebung zu suchen, um Lösungen zu finden.“ | |
Sein Kalender ist seit Monaten voll mit Terminen: Hochschulgesetzgebung. | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. BAföG-Amt. | |
„Als die Geflüchteten im Oktober ankamen, haben wir auf jeden Fall gemerkt, | |
was für eine Verantwortung wir hier auf einmal tragen. Und das fand ich | |
auch ganz schön belastend“, sagt Fotografiestudentin Johanna Terhechte, die | |
die Akademie mit auf den Weg gebracht hat. Die gesamte Initiative sei | |
absolut unterstützenswert, sagt Maximilian Steinborn. Er studiert | |
Medienkunst und war lange im Studierendenrat aktiv. Gemeinsam mit | |
Kommilitonen hat er im vergangenen Semester unter dem Titel „Open the | |
opening“ verschiedene Veranstaltungen organisiert, die fragten, wie die im | |
Titel der Akademie festgeschriebene Transkulturalität auch langfristig in | |
die Lehre an der Hochschule hineinwirken kann. | |
Transkulturalität lässt sich nicht verordnen, sie muss sich im Prozess | |
realisieren. Ob und wie dies gelingt, werden die nächsten Jahre zeigen. | |
Bestenfalls wird die Leipziger Akademie Nachahmer motivieren, bürokratische | |
Hürden auf sich zu nehmen, um Geflüchteten eine langfristige Perspektive | |
zu geben. | |
Unsere Autorin ist seit 2011 Mitglied im Freundeskreis der Hochschule. | |
20 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Sarah Alberti | |
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