# taz.de -- Spielfilm „Mustang“: Freiheitsversprechen Istanbul | |
> Deniz Gamze Ergüven lässt in ihrem Film „Mustang“ fünf Mädchen am | |
> brutalen Traditionalismus der ländlichen Türkei scheitern. | |
Bild: Zöpfe ab: Lale (Güneş Nezihe Şensoy) schneidet sich in „Mustang“ … | |
Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. Dieses | |
zugegebenermaßen etwas grobschlächtige Idiom schießt einem angesichts der | |
politischen Entwicklung in der Türkei gelegentlich durch den Kopf. Das | |
Regime Erdoğan wird immer autoritärer. Trotzdem wählt die Hälfte der 60 | |
Millionen Wahlberechtigten, über die Hälfte davon Frauen, ihren | |
Möchtegern-Diktator immer wieder. Wie ist diese Selbstunterwerfung zu | |
erklären? | |
Deniz Gamze Ergüven sieht den Grund in dem brutalen Traditionalismus des | |
Landes. In ihrem Film „Mustang“ lässt die türkische Regisseurin, Jahrgang | |
1978, fünf bezaubernde junge Mädchen daran scheitern. Weil die | |
minderjährigen Waisen Lale, Nur, Selma, Ece und Sonay, die bei ihrer | |
Großmutter in einem Dorf im Norden der Türkei aufwachsen, nicht so frei | |
leben können, wie sie wollen, bleiben ihnen nur Selbstmord und Flucht. | |
Die Analogie zu Sophia Coppolas „Virgin Suicides“ (1999), der Verfilmung | |
von Jeffrey Eugenides’ gleichnamigem Roman, liegt auf der Hand. Das Problem | |
ist nur, dass Ergüven ihren ersten Langfilm nicht als Parabel auf die | |
verlorene Jugend angelegt hat wie Eugenides. Sie zielt mit „Mustang“ | |
erkennbar auf die politische Gegenwart der Türkei von heute. | |
Sonst hätte sie während einer häuslichen Szene im Hintergrund nicht die vom | |
Radio übertragene Rede Bülent Arınç’, des ehemaligen stellvertretenden | |
Ministerpräsidenten, eingeblendet: „Wo sind unsere Mädchen, die leicht | |
erröten, ihren Kopf senken und die Augen abwenden, wenn wir in ihre | |
Gesichter schauen, und somit zu einem Symbol der Keuschheit werden?“ | |
Die Idee, „Virgin Suicides“ (polit)realistisch umzumünzen, hat einiges für | |
sich. Im Sommer 2011 erschütterte die rätselhafte Selbstmordserie von neun | |
Frauen in der Provinz Batman die Türkei. Doch dann muss man es konsequent | |
tun. Bei Ergüven sind aber alle fünf Mädchen so ungebrochen | |
freiheitsbeseelt, wie das für Teenager, die nie etwas anderes als ihr 1.000 | |
Kilometer von Istanbul entferntes Dorf erlebt haben, schwer vorstellbar | |
ist. | |
## Jungfrauentests und Zwangsheirat | |
Und sie setzt allzu sehr auf eine binäre Struktur und Stereotypen: Hier die | |
„fünfköpfige Hydra“ (Ergüven in einem Interview) der Freiheitsheldinnen, | |
dort die bornierte ländliche Gemeinschaft mit Jungfrauentests und | |
Zwangsheirat. Als der Großmutter zu Beginn des Films nach einem | |
ausgelassenen Spiel der Mädchen mit Jungs aus ihrer Klasse am Meer | |
Schlimmes schwant, wird eine nicht nur psychologische Drohkulisse | |
aufgebaut. | |
Die Mädchen werden in sackartige Kleider gehüllt, das Haus wird zur Festung | |
umgebaut, aus Verwandten werden moralische Ordnungshüter ohne Gnade, | |
geschweige denn Zweifel. So muss die Kette von Ausbruchs- und | |
Selbstmordversuchen ihren Lauf nehmen. Wer Unterdrückung in der Türkei | |
erklären will, müsste aber aufzeigen, wie der Widerspruch zwischen | |
Freiheitsbegehren und Selbstunterwerfung sich als Riss durch die Menschen | |
selbst zieht. Nur das umwerfende Talent der Laiendarstellerinnen Güneş | |
Nezihe Şensoy, Doğa Zeynep Doğuşlu, Tuğba Sunguroğlu, Elit İşcan und İ… | |
Akdoğan rettet über diese charakterologische Problemstelle Ergüvens hinweg. | |
Kein Wunder, dass am Ende das große Freiheitsversprechen in Gestalt des | |
orangerot glühenden Istanbul winkt. Dorthin fliehen zwei der Mädchen auf | |
einem Gemüsetransporter. Auf so ein Bild kann die Politik anspringen. Beim | |
SPD-Filmabend während der Berlinale pries Dietmar Nietan, ein veritabler | |
Türkeiexperte seiner Partei, das Werk als „Freiheitsfilm“. Politiker | |
erliegen besonders gern ihren eigenen Klischees. | |
24 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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