# taz.de -- Kunstmesse Contemporary Istanbul: Einmal war ich ein Diktator | |
> Depression, Sarkasmus und Durchhaltewillen: Die CI-Kunstmesse in Istanbul | |
> liebt den Kitsch und ist ein Stimmungsbarometer nach der Wahl. | |
Bild: Alexey Mordsov, Artemisia, 2011, bei der Neuseeländischen Heritage Galle… | |
„Imitation einer Zeitung“. Die Idee hätte von den Yes Men sein können, | |
wegen der Ende vergangener Woche in Istanbul die Polizei ausrückte. Mit | |
einer Razzia beschlagnahmte sie die Ausgaben zweier Zeitungen namens Özgür | |
Bugün und Özgür Millet. Oppositionelle Medienmacher hatten mit den | |
Fake-Editionen der Zeitungen Bugün und Millet dagegen protestiert, dass die | |
Regierung diese kurz vor den Parlamentswahlen von Sicherheitskräften hatte | |
stürmen und die Redaktion auf Linie bringen lassen. „Özgür“ bedeutet | |
„frei“. | |
Ganz ist der Freiheitswille also noch nicht verschwunden in der Türkei. | |
Auch wenn Präsident Erdogan und seine AK-Partei nach ihrem überraschenden | |
Wahlsieg triumphieren. Und als Ausdruck dieses Drangs war wohl das | |
Happening wenige Kilometer Luftlinie von der Polizeiaktion zu deuten. Vier | |
Tage lang feierte die Kunstmesse „CI – Contemporary Istanbul“ vergangene | |
Woche im Kongresszentrum in der Nähe des Taksim-Platzes ihr zehnjähriges | |
Jubiläum. | |
Die Schau, die der Tourismusunternehmer Ali Güreli 2005 aus der Taufe hob, | |
ist ein Paradox. Mit einer aggressiven Marketing-Offensive hat Güreli sein | |
„Baby“ unter die zehn größten Messen der Welt gehievt. Rund 75.000 Besuch… | |
und über 100 Galerien kamen diesmal. Für den Kunstmarkt hat sie damit die | |
Aufholjagd zu den zehn führenden Weltwirtschaften vorweggenommen, die | |
Erdogan der Türkei bis zum 100. Republikjubiläum 2023 verordnet hat. | |
Diesen Rekord verdankt die Messe aber weniger ihrer Qualität. Auf der CI | |
regieren farbenfroher Kitsch und schillernde Kostbarkeiten. Kaum ein | |
Besucher, der nicht vor Carole Feuermans 160.000 Dollar teuren „Christina“, | |
der Skulptur einer Frau im geblümten Badeanzug, ein Selfie schoss. Die | |
Messe boomt, weil sie einer Gesellschaft unter Formierungszwang als Ventil | |
dient. | |
## Echte Entdeckungen? Selten | |
In Antalya dürfen die Besucher des Filmfestes nicht mehr in zerfetzten | |
Jeans und T-Shirt erscheinen. In Adana darf sich ein anderes nicht mehr | |
nach dem Nationalgetränk Raki nennen. Da wächst das Bedürfnis nach einer | |
unkonventionellen Öffentlichkeit mit ästhetischen Überraschungswerten. Kein | |
Wunder, dass sich die Besucherschlange zur CI-Vernissage vergangenen | |
Donnerstag bis hinauf ins Nobelviertel Nişantaşı zog. | |
Echte Entdeckungen auf diesem buntscheckigen Basar sind selten. In diesem | |
Jahr überzeugte der eigenwillige Ihsan Oturmak. Seine Ölbilder stummer | |
Menschengruppen rufen das gestörte Verhältnis von Individuum und Masse in | |
der Türkei auf. Der 28-jährige Kurde fand nur über den Umweg der „emerging… | |
Karavil-Galerie aus London den Weg ins Kunstgeschehen seiner Heimat. | |
Politische Kunst machte sich diesmal rar. | |
Mit Gasmasken aus Fell demonstrierte die pakistanische Künstlerin Mehwish | |
Iqbal, wie solche Accessoires Teil des Lebensalltags geworden sind. Die | |
Istanbuler Galerie Sanatorium bot eine Serie von Porzellantellern mit den | |
aufgebrannten Typenbezeichnungen von Angriffsdrohnen feil. Ludovic | |
Bernhardt prangert damit den immerwährenden Krieg an, den diese lautlosen | |
Wunderwaffen eingeleitet haben. | |
Manchmal war vorauseilende Vorsicht die Mutter der Provokation. Xavier | |
Laboulenne aus Berlin hatte die homoerotischen Comics von Gengoroh Tagame | |
mit grauem Seidenpapier verhängt. Dass vor allem Besucherinnen den Schleier | |
vor den Werken abenteuerlich penetrierter Männer lüfteten, war womöglich | |
kein Zufall. In der Machogesellschaft Türkei werden fast täglich Frauen | |
umgebracht oder vergewaltigt. Auf Tagames Bilder konnten sie betrachten, | |
wie das starke Geschlecht zum Objekt sexueller Gewalt wird. | |
## Gemischte Gefühle am Bosporus | |
Immerhin funktioniert die Messe als Stimmungsbarometer nach den Wahlen. | |
„Wie konservativ dieses Land doch ist“, seufzte Bige Örer, die Direktorin | |
der Istanbul-Biennale. „Etwas Besseres als das iranische Modell kann uns | |
gar nicht passieren“, frotzelte dagegen der Istanbuler Galerist Kerimcman | |
Güleryüz über die anschwellende Auswanderungsdebatte unter türkischen | |
Intellektuellen und der liberalen Bourgeoisie. | |
„Eine reiche Diaspora“, argumentiert er, „kann der türkischen Kunst bess… | |
helfen.“ „Nach den Wahlen hatte ich natürlich auch so einen Moment | |
absoluter Hoffnungslosigkeit“ gestand die junge Künstlerin Hera | |
Büyüktaşçıyan. „Bis ich begriffen habe, dass sie genau das wollen. Dageg… | |
hilft nur, weiter kreativ zu sein, Kunst zu machen.“ | |
Mit derart gemischten Gefühlen stellen sich am Bosporus also alle auf „four | |
more years Erdogan“ ein. Der Istanbuler Maler Burhan Kum hat das Trauma auf | |
den Punkt gebracht. „Once I was a dictator“ heißt sein neuestes Werk, das | |
er am Stand von Güleryüz‘ Galerie „The Empire Project“ präsentierte. | |
Auf dem Schwarz-Weiß-Bild aus Tusche und Öl brennen die Ufer des Bosporus, | |
ein Schiff versinkt und ein Stadtteil explodiert, während sich vor der | |
Katastrophenkulisse seelenruhig eine ottomanisch gewandete Figur fläzt. Ob | |
jetzt die Polizei wegen der „Imitation“ eines römischen Kaisers ausrückt? | |
17 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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