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# taz.de -- Biennale im Südosten der Türkei: Karneval in Kurdistan
> Mythen, Poesie und Kommentare zur Politik begegnen sich in den
> Kunstwerken auf der 3. Kunst-Biennale in der kurdischen Stadt Mardin.
Bild: „Pity Pity“ von Aysel Alver in Mardin.
Eine Frau mit weißem Schleier beugt sich trauernd über ein lebloses
Mädchen. Das Pieta-Motiv der Skulptur in dem leeren Steingewölbe erklärt
sich für den Betrachter sofort. Irritierend nur, dass der Körper der
schönen jungen Toten in einer Fischflosse mündet. „Pity Pity“, die Arbeit
der Mardiner Künstlerin Aysel Alver auf der 3. Mardin-Biennale, ist eines
der vielen Belege dafür, wie produktiv Kunst eine einzigartige
Projektionskulisse aufschließen kann.
„Mythologies“ hatte die kleine, erst 2010 gegründete Biennale im äußerst…
Südosten der Türkei als Motto ausgegeben. Das klang etwas konventionell.
Doch wer von den Dächern der labyrinthisch verwinkelten, 6.000 Jahre alten
Stadt, die sich malerisch an einen alten Berghügel schmiegt, hinab in die
mesopotamische Tiefebene schaut, dem erscheint das nur noch logisch. Vor
dem geistigen Auge dämmern da automatisch alle Mythen auf, die sich mit
dieser Geburtsstätte der menschlichen Zivilisation verbinden.
Ein Mythos ist die Legende von Sahmaran. Das Fleisch der Königin, die halb
Schlange und halb Mensch ist und in die sich ein junger Mann verliebt, wird
von einem finsteren König begehrt. Die Geschichte endet natürlich tragisch.
In Alvers Skulptur wird die Fabel einer absoluten Liebe und ihres Kampfes
um Gerechtigkeit zugleich Sinnbild des Leidens der Frauen in einer seit
Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg verheerten Gegend.
Die Biennale in der 80.000-Einwohner-Stadt, die so beharrlich den
regionalen Kontext fokussiert, statt mit globalen Schlagworten um sich zu
werfen, ist ein Beispiel für eine markante Gegenbewegung zum großen
Biennale-Zirkus. Angesagte Kunstdompteure sind hier verpönt. Trotzdem
konnte das 15-köpfige Kuratoren-Kollektiv um die Ankaraer Galeristin Döne
Otyam zur dritten Ausgabe immerhin 63 KünstlerInnen präsentieren.
## Minibollwerke gegen das Einmannregime
Mit diesem Ansatz ist Mardin auch das poetische Gegenstück zur
Canakkale-Biennale am anderen, fast 2.000 Kilometer entfernten westlichen
Ende der Türkei. Die hatte vergangenen September das
Weltkrieg-Erinnerungsjahr 1915 thematisiert. In Mardin werden die großen
Menschheitsfragen gern verschlüsselt.
Zusammen mit der noch kleineren Sinop-Biennale am Schwarzen Meer kommt das
Kunst-Schwellenland Türkei auf erstaunliche vier Kunstbiennalen –
zivilgesellschaftliche Minibollwerke gegen das Einmannregime, das die
AKP-Regierung dem Land nach den Parlamentswahlen Anfang Juni gern verordnen
will.
Der Hang zur Poesie hieß aber nicht, dass Politik in der Kunstenklave im
explosiven Dreiländereck Syrien, Türkei und Irak nicht vorgekommen wäre.
Mit einem gehörigen Schrecken betrat zumindest der deutsche Besucher den
zentralen Ausstellungsort, eine verfallene Kaserne namens „Alman
Karargâhi“. Das „Deutsche Hauptquartier“ hatte dem deutschen Militär im
Ersten Weltkrieg als Stützpunkt gedient. Kurz zuvor war die Villa eines
armenischen Kaufmanns zwangsenteignet worden.
Mit „Arrows without Bodies“ evozierte der spanisch-britische Künstler Juan
delGado das Schicksal der Boatpeople im Mittelmeer. Den Boden eines der
verfallenen Gelasse des jahrhundertealten Mor-Efrem-Klosters hatte er mit
Sand bedeckt und überall Schuhe ausgelegt. An der Wand lief der Video-Loop
eines endlos wogenden Meeres.
Und den Superhelden mit Pharaophysiognomie und Gamal-Abdel-Nasser-Stimme,
der in dem satirischen Video „On Presidents and Superheroes“ des
ägyptischen Künstlers Khaled Hafez durch Ägypten paradiert, konnte man
mühelos auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan beziehen.
## Die Schreie der Esel
Die Lust an Poesie und Ästhetik macht Mardin zu einer sehenswerten
Alternative zu den Biennalen, die mittlerweile im Mainstream einer
vorhersehbaren Politkunst ersticken. Die Biennale-Idee vom spielerisch
entfesselten „Karneval“ als „Mittel des Widerstands“ rutschte freilich
mitunter ins Folkloristische ab. Etwa wenn die genderkritisch gedachte
Performance der Istanbuler Künstlerin Dilara Akay zu einem Volksfest mit
kurdischen Tänzen ausartete.
Bei ihren Recherchen vor Ort war sie darauf gestoßen, dass es ein Esel war,
der den antiken König Priapos einst davon abhielt, die Göttin Hestia zu
vergewaltigen. Bis heute geht ohne die geduldigen Lasttiere gar nichts in
der Stadt mit ihren steilen Berggässchen. Ihre morgendlichen Schreie
bildeten den Kern einer Performance, die Akay mit den Teilnehmerinnen einer
Mardiner Frauenakademie einstudiert hatte.
Gebrochen wurde derlei ästhetisches Appeasement mit der Volkskultur
spätestens dann, als die Gäste in dem riesigen Open-Air-Kino am Rande der
Stadt saßen. Das Amphitheater residiert vor der grandiosen Kulisse
Mesopotamiens, die syrische Grenze ist keine zwanzig Kilometer entfernt.
30 May 2015
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
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Schwerpunkt Türkei
Adam Szymczyk
Istanbul
Kunst
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