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# taz.de -- Kunst in der Türkei: Am Ende des Regenbogens
> Kunst hat in der Türkei lange als Motor der Gesellschaftskritik gedient.
> Ist ihre Vielfalt nach Erdogans Wahlsieg bedroht?
Bild: Ihre Arbeit „Kindsbraut“ postete Sükran Moral am Tag von Erdogans Wa…
„Faszinierend farbig“. Als die Türkei 2008 als Gastland der Frankfurter
Buchmesse unter diesem Motto antrat, war das eine Überraschung. Nicht die
blutrote Nationalflagge mit der weißen Halbsichel zierte den Stand des
Landes. Kein neoottomanischer Kitsch in Gestalt von stilisierten Minaretten
oder tanzenden Derwischen lockte die Besucher. Auch keine Glühbirne, das
offizielle Parteisymbol von Premier Erdogans AK-Partei, strahlte als
Aushängeschild.
Als offizielles Logo diente ein buntes Labyrinth, das von hellem Gelb bis
zum dunklen Violett changierte. Ein Labyrinth, das man von allen Seiten
betreten und wieder verlassen konnte. Für ein Land, das seine Schüler noch
bis vor Kurzem allmorgendlich das Bekenntnis zur unteilbaren türkischen
Nation stehend im Klassenzimmer deklamieren ließ, war das chromatische
Bekenntnis zur Vielfalt ein brisanter Schritt – politisch, ideologisch,
kulturell.
Man muss sich das Regenbogenmotiv noch einmal vor Augen führen, um zu
ermessen, welche Wende die Türkei seitdem genommen hat. Ertugrul Günay, den
liberalen Kulturminister, der das Logo in Frankfurt stolz vorstellte, hat
Premier Erdogan längst entlassen.
Spätestens seit den Protesten im Istanbuler Gezipark vom letzten Sommer
versucht der immer autokratischer werdende Premier seinem Land genau die
kulturelle Zwangsjacke überzustreifen, die seine Gegner unter dem
Schafspelz des (bis dahin) vorsichtig agierenden Politikers immer
vermuteten: die des einheitlichen islamischen Lebensstils – vom
Alkoholverbot bis zum Lachverbot für Frauen in der Öffentlichkeit.
## Nukleus der Zivilgesellschaft
Der in der Versenkung verschwundene Ertugrul konnte seinen Frankfurter
Marketing-Coup nur präsentieren, weil die türkische Gesellschaft längst
diesem Regenbogen glich. Und einer der Motoren dieser allmählichen
Verwandlung war die Kunst. In der Türkei war sie zwar schon immer
politisch.
1968 protestierte die türkische Malerlegende Mehmet Güleryüz mit der
Skulptur eines zwei Meter großen Affen aus Holz in einem Kastengitter gegen
das Einengende der türkischen Gesellschaft. Doch spätestens seit den 90er
Jahren avanciert die Kunst zum Nukleus der neuen Zivilgesellschaft. Wie in
der DDR fungierte sie als Ersatzöffentlichkeit, in der bislang tabuisierte
Fragen diskutiert werden konnten.
## Schlüsselrolle von „starken Frauen“
Es war kein Zufall, dass „starke Frauen“ wie die Künstlerinnen Gülsün
Karamustafa, Ayse Erkmen oder Hale Tenger dabei eine Schlüsselrolle
spielten. Für ihre Installation „Ich habe solche Freunde“ wurde Tenger 1992
prompt vor den Kadi gezerrt. Die Arbeit zeigte die türkische
Nationalflagge, zusammengesetzt aus Hunderten kleiner Bronzefiguren mit
erigiertem Penis.
Als Symbol des Paradigmenwechsels gilt Tengers Arbeit „Die Adepten der
Ist-mir-scheißegal-Schule“ von 1990. Blitzblanke Bursa-Schwerter hingen da
über einem riesigen Kessel, der mit rot gefärbtem Wasser gefüllt war und
Assoziationen an ein Blutbad weckte. Nationale Identität, die Beziehung der
Geschlechter, der öffentliche Raum, die Rolle des Staates, des Militärs –
die Kunst war Labor für alle Streitfragen.
## Plattform für kulturelle Differenz
Wichtigste Plattform dieser kritischen Ästhetik war die Istanbul-Biennale.
1987 gegründet, wurde hier nicht nur immer wieder kritische Kunst
ausgestellt. Hier wurde auch ein gesellschaftskritisches Alternativmodell
zur Biennale von Venedig entwickelt. Für die 3. Ausgabe 1992 wählte der
Kurator Vasif Kortun das Motto: „Produktion kultureller Differenz“. Er
schaffte die nationalen Pavillons ab und lud junge Künstlerinnen aus dem
Balkan und Osteuropa ein.
2001, unter dem unmittelbaren Eindruck des September-Attentats in New York,
fragte die japanische Kuratorin Yuko Hasegawa mit dem Titel „Egofugal“ nach
einer besseren Welt jenseits des Egoismus. Und propagierte eine neue
Beziehung von Individuum und Gesellschaft. 2003, während der Kriege im Irak
und in Bosnien, kritisierte der amerikanische Kurator Dan Cameron das
amerikanische Gerechtigkeitsideal. Mit seiner 8. Biennale forderte er
„Poetic Justice – Poetische Gerechtigkeit“.
Die Biennale mischte sich oft in türkische Debatten ein. 2007 stellte der
chinesische Kurator Hou Hanrou mit der 10. Biennale dem
Modernisierungsmodell des türkischen Staatsgründers Atatürk das einer
„Modernisierung von unten“ entgegen. Auf der 13. Biennale 2012
demonstrierte der türkische Politkünstler Halil Altindere mit seiner Arbeit
„Wonderland“ die gesellschaftsprognostische Kraft der Kunst. In dem Video
stürmen drei jugendliche Roma-Rapper durch das von der verhassten
staatlichen Entwicklungsgesellschaft TOKI tot„sanierte“ Viertel Sulukule.
Am Ende geht ein Polizist in Flammen auf. Altindere hatte das Video drei
Monate vor Gezi gedreht.
## Maßregler der Künste
Nach der Präsidentenwahl machen sich unter türkischen Künstlern und
Intellektuellen Angst und Enttäuschung breit. Nicht wenige sehen ihr Land,
auch wenn sie es öffentlich nicht so direkt sagen, auf dem Weg zum
islamischen Faschismus. Gerade deswegen beschwört Beral Madra, die
72-jährige Doyenne der türkischen Kunstszene, die Kunst und die Biennalen
als „die am meisten freien, unabhängigen und dissidenten Plattformen“. Dass
den Kunstevents die Gefahr der Zensur droht, wie es die 44-jährige
deutsch-türkische Künstlerin Nezaket Ekici vor Kurzem beschwor, ist
allerdings schwer von der Hand zu weisen.
Schon bevor Recep Tayyip Erdogan während der Gezi-Proteste die sozialen
Netzwerke Twitter und Youtube sperrte, gefiel sich der Ministerpräsident
als oberster Maßregler der Künste. 2011 hatte er ein Versöhnungsdenkmal,
das der türkische Bildhauer Mehmet Aksoy im nordostanatolischen Kars an der
Grenze zu Armenien errichtet hatte, ohne viel Federlesen abreißen lassen.
Schwer vorstellbar, dass er als Präsident mit „erweiterten Vollmachten“
plötzlich zum Freund der Künste zu mutieren gedenkt.
Die türkische Gesellschaft hat freilich Übung darin, auf politische
Repression zu reagieren. Ihr großes Trauma ist der Militärputsch vom 12.
September 1980. Gerade weil er so blutig war, gebar er seine Kontrahenten
selbst: Als Antwort formierten sich die unabhängige Frauenbewegung und die
neue Kunstszene. Präsident Erdogan sieht sich heute einer ungleich
entwickelteren Zivilgesellschaft gegenüber als die Militärs vor 34 Jahren.
## Aufschrei und Warnung
Am 10. August, dem Tag von Erdogans Präsidentschaftssieg, postete die
Videokünstlerin Sükran Moral auf ihrem Facebook-Account ein Foto ihrer
Arbeit „Kindsbraut“: Zu sehen ist ein von Blutspritzern besudeltes
Hochzeitsbett in Form der türkischen Landkarte. Darüber schrieb sie:
„Welcome to Turkey 2014!“ Das Signal der 1962 Geborenen, eine der
provozierendsten Künstlerinnen des Landes, war Aufschrei und Warnung
zugleich: Die Kunst in der Türkei lässt sich auch in Zukunft den Schneid
nicht abkaufen!
Die „Generation Gezi“ blieb während des Wahlkampfs zwar stumm. Ihre
humorvollen, ästhetisch inspirierten Widerstandsformen, mit denen sie am
Istanbuler Taksimplatz der Kunst den Rang ablief, dürfte die sanfte
Protestjugend aber nicht vergessen haben.
Und die liberale, säkulare Großbourgeoisie, die Erdogan nicht nur hasst,
weil er ihnen zu Zeiten politischer Krisen gern Steuerfahnder auf den Hals
hetzt, hat sich mit einem „cordon sanitaire“ in Gestalt üppig finanzierter
Kunstinstitutionen umgeben. Die von ihnen getragene IKSV-Stiftung für Kunst
und Kultur hat gerade erst die Ex-Documenta-Chefin Carolyn
Christov-Bakargiev zur Kuratorin der 14. Istanbul-Biennale im Herbst 2015
berufen. Kaum nominiert, wies die streitlustige Kunstwissenschaftlerin
darauf hin, dass auf der Istanbul-Biennale schon immer Arbeiten gezeigt
worden seien, „die nicht zur offiziellen Linie der Regierung passten“.
## Kulturelle Stimmung
Ersten Aufschluss über die kulturelle Stimmung im Land dürfte der Herbst
bringen. Dann eröffnen gleich zwei, bislang eher unbekannte Biennalen.
„Mythologien“ lautet das Motto der 3. Mardin-Biennale Mitte Oktober. Die
multikulturelle Metropole im kriegsgeprüften kurdischen Südosten der
Türkei, direkt an der syrischen Grenze, ist immer für eine Überraschung
gut.
Und in der Provinzstadt Canakkale an den Dardanellen, dort, wo die Türkei
in der Schlacht von Gallipoli 1915 die Briten aufhielt, wagt sich Beral
Madra Ende des Monats an ein heißes Eisen. Im Gedenkjahr des 1.
Weltkrieges, in Sichtweite des antiken Troja, will sie der Frage nachgehen,
ob die Dominanz des Krieges durch eine Kultur des Friedens abgelöst werden
kann. Das Motto der 4. Canakkale-Biennale hat sie dem antiken Philosophen
Platon entlehnt. In einer kriegerisch entflammten Welt könnte es aktueller
nicht sein: „Only the dead have seen the end of the war.“
21 Aug 2014
## AUTOREN
Ingo Arend
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