# taz.de -- Gedenken an das Hamburger Konzentrationslager: „Spielraum gibt es… | |
> Die Übergabe des KZ Neuengamme jährt sich zum 70. Mal. Auch ohne | |
> Zeitzeugen werde die Geschichte lebendig bleiben, sagt der Leiter des | |
> Studienzentrums. | |
Bild: Wie erinnern, wenn keiner mehr erzählen kann? Der Neuengamme-Überlebend… | |
taz: Herr von Wrochem, warum gibt es keine Zeitzeugen der Befreiung des KZ | |
Neuengamme am 3. Mai 1945? | |
Oliver von Wrochem: Überlebende hat es schon gegeben. Sie wurden allerdings | |
nicht in Neuengamme befreit, und das macht diesen Ort so besonders: Er war | |
der einzige große KZ-Lagerkomplex, der nicht im engeren Sinne befreit | |
wurde. Die Alliierten fanden ein geräumtes, ja: aufgeräumtes Lager vor. | |
Warum? | |
Weil Hamburg am Ende des Zweiten Weltkriegs kampflos – und ohne Spuren der | |
KZ-Verbrechen – an britische Truppen übergeben werden sollte. Deshalb hatte | |
Reichsstatthalter Karl Kaufmann befohlen, die „Elendsgestalten“ | |
wegzubringen und die Spuren der im KZ Neuengamme verübten Verbrechen zu | |
beseitigen. | |
Wohin brachte man sie? | |
Viele kamen auf Schiffe in der Lübecker Bucht, die dann – wie die „Cap | |
Arcona“ – am 3. Mai 1945 von britischen Fliegern bombardiert wurden; sie | |
dachten, es seien deutsche Truppen. 6.600 KZ-Häftlinge verbrannten oder | |
ertranken. Andere Neuengammer Häftlinge – vor allem todkranke – wurden ins | |
KZ Bergen-Belsen gebracht. Weitere kamen ins Lager Sandbostel, nach | |
Wöbbelin sowie nach Gardelegen, wo sie am 13. April 1945 in einer Scheune | |
umgebracht wurden. | |
Die letzten Zeitzeugen sind 85 bis 100 Jahre alt. Wird Gedenken ohne sie | |
funktionieren? | |
Ja. Denn zum einen bewahren wir ihre Zeugnisse – audio-, und videogestützte | |
Interviews, die wir in unsere Ausstellungen einbauen. Zum anderen versuchen | |
wir, die nachfolgenden Generationen, darunter Kinder und Enkel der | |
Zeitzeugen, für die Gedenkstättenarbeit zu interessieren. | |
Wie geht das? | |
Zum Beispiel auf unserem „Forum Zukunft der Erinnerung“ am 5. und 6. Mai. | |
Dort werden wir darüber nachdenken, wie sich Erinnerungskultur verändert | |
und wie wir die Generationen stärker ins Gespräch bringen können. Dabei | |
geht es nicht nur darum, Schüler anzusprechen. Alle müssen sich bewegen. | |
Die Gesellschaft verändert sich strukturell, und es passieren viele Dinge | |
gleichzeitig: Die letzten NS-Täter stehen vor Gericht, wir stehen aber auch | |
vor neuen Herausforderungen wie der Abschottung Europas gegenüber | |
politischen Flüchtlingen. | |
Aber oft fehlt der biografische Bezug zum Dritten Reich. Wie gut erreichen | |
Sie etwa eine multi-ethnische Schulklasse? | |
Unsere Erfahrung ist, dass Herkunft nicht das Kriterium für Interesse ist. | |
Außerdem war der von den Nazis ausgelöste Zweite Weltkrieg ein globales | |
Phänomen. Es gab auch den durch Japan ausgelösten Pazifik-Krieg. Für | |
Indonesien, den Vorderen Orient und Nordafrika existieren drängende Fragen. | |
Was in Deutschland allerdings singulär war: der systematische, industrielle | |
Massenmord. Aber auch dessen Ursachen – Rassismus und Antisemitismus – sind | |
für viele Länder bis heute relevant. | |
Sie bieten auch Seminare für Täter-Nachkommen an. Warum? | |
Unsere Kernaufgabe ist die Arbeit mit Jugendlichen und die Bewahrung der | |
Erinnerung an das Unrecht. Es kommen aber auch Kinder und Enkel von Tätern | |
zu uns und fragen: Was hat mein Vater, mein Großvater getan? Um dieses | |
Informationsbedürfnis zu beantworten, veranstalten wir diese Seminare. | |
Und sogar Begegnungen von Täter- und Opfer-Nachfahren. | |
Ja. Auch damit haben wir auf das Bedürfnis dieser Menschen reagiert, mit | |
der jeweils anderen Gruppe ins Gespräch zu kommen. Sie wollten | |
Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit der Familiengeschichte | |
ergründen. | |
Was kommt dabei heraus? | |
2014 etwa haben beide Gruppen eine gemeinsame Erklärung erarbeitet, in der | |
es heißt: „Wir, die Nachkommen der Täter, tragen keine Schuld, und wir, die | |
Nachkommen der Verfolgten sind keine Helden, nur weil unsere Angehörigen | |
Opfer waren. Aber wir tragen gemeinsam Verantwortung für die Gestaltung der | |
Zukunft.“ | |
Sie bieten auch Seminare für Menschen an, deren Berufsgruppe an | |
NS-Verbrechen beteiligt war: Mediziner, Polizisten, Eisenbahner, Militärs, | |
Verwaltungsleute. Wie kommt das an? | |
Gut. Es gibt ein großes Interesse zum Beispiel an den Euthanasieverbrechen, | |
die nach Jahrzehnten des Beschweigens heute intensiver erforscht werden. | |
Das hat viele Menschen in medizinischen Berufen sensibilisiert. Sie wollen | |
wissen, wo der Zusammenhang zwischen NS-Euthanasie und aktuellen Fragen von | |
Sterbehilfe und Pränataldiagnostik liegt. Ein anderer Kontext sind die | |
Wehrmachtsverbrechen. Seit den großen Ausstellungen von 1995 und 2001 setzt | |
sich die Bundeswehr intensiver mit ihrer Vorgängerarmee auseinander und ist | |
sensibilisiert für ethische Fragen. Das betrifft vor allem grundsätzliche | |
Fragen nach Befehl, Gehorsam und individueller Verantwortung. | |
Und was lernen Verwaltungsangestellte bei Ihnen? | |
Da geht es vor allem um Flüchtlingspolitik. Auch diese Debatte ist | |
verknüpft mit der Vertreibungspolitik der Nazis, denn Deutschland steht in | |
einer historischen Verantwortung. Und wenn ein Verwaltungsbeamter mit | |
Asylpolitik befasst ist, muss er sich fragen, ob sein Handeln nicht nur | |
rechtlich einwandfrei ist, sondern auch ethisch. | |
Schickt die Stadt Hamburg oft Mitarbeiter der Ausländerbehörde in Ihre | |
Seminare? | |
Nein, aber wir würden es uns wünschen. Denn dies ist ein sehr aktuelles | |
Thema. Und je näher man an die Gegenwart heranrückt, desto größer ist die | |
Angst, Verantwortung zu übernehmen. | |
So wie im Dritten Reich. | |
Heute wie damals war der Handlungsspielraum des einzelnen | |
Verwaltungsmitarbeiters begrenzt, aber es gab einen Spielraum, und den gibt | |
es auch heute. Dass die Leute darüber reflektieren: Das ist unser Ziel. | |
## Öffentliche Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung: 13 Uhr, | |
Jean-Dolidier-Weg 75 | |
## Livestream unter | |
4 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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