# taz.de -- Debatte Antiziganismus: Wir sind keine Fremden | |
> 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus sind die | |
> Ressentiments gegen Roma und Sinti enorm. Das lässt sich ändern. | |
Bild: Gedenksteine für ermordete Sinti und Roma auf dem Gelände des KZ Buchen… | |
Sinti und Roma gehörten ebenso wie Juden zu den Opfern der vom NS-Staat | |
organisierten Rassenpolitik, die auf vollständige Vernichtung der zu | |
„Untermenschen“ Herabgewürdigten zielte. Diese Erfahrung absoluter | |
Rechtlosigkeit hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt | |
und unsere Identität als Minderheit geprägt. Doch im Gegensatz zur Schoah | |
dauerte es Jahrzehnte, bis die Dimension der an unseren Menschen begangenen | |
Verbrechen allmählich ins allgemeine Bewusstsein drang. | |
Heute erleben wir in Europa eine Wiederkehr von längst überwunden | |
geglaubtem Nationalismus, Populismus und antidemokratischen Bewegungen. | |
Wieder einmal sind es Minderheiten, allen voran Sinti und Roma, die als | |
Sündenböcke für die mit der Wirtschafts- und Finanzkrise einhergehenden | |
gesellschaftlichen Verwerfungen herhalten müssen. | |
Indem Politiker den Sinti- und Roma-Minderheiten, obwohl diese in ihren | |
europäischen Heimatländern seit vielen Jahrhunderten verwurzelt sind, die | |
Rolle des angeblich „Fremden“ und „Anderen“ zuweisen, wollen sie nicht … | |
brüchig gewordene Identitäten festigen, sondern vor allem vom eigenen | |
Versagen ablenken. | |
Die Folgen für unsere Minderheit sind europaweit fatal. Einige Beispiele | |
mögen dies schlaglichtartig beleuchten. In Ungarn, Bulgarien oder in der | |
Slowakei marschieren regelmäßig gewaltbereite Organisationen der extremen | |
Rechten in Roma-Siedlungen auf. Der einflussreiche ungarische Publizist | |
Zsolt Bayer, ein Freund von Ministerpräsident Viktor Orbán, bezeichnete | |
Roma in einem Anfang 2013 erschienenen Artikel als „Tiere“ und sprach ihnen | |
damit in bester Stürmer-Manier das Menschsein ab. Trotz internationaler | |
Proteste ist Bayer bis heute Mitglied der rechtskonservativen | |
Regierungspartei Fidesz geblieben. | |
## Offener Rassismus und subtile Ausgrenzung | |
Neben diesem offenen Rassismus gibt es die subtilen Alltagsmechanismen der | |
Ausgrenzung, etwa wenn ein Geschäftsinhaber keine jungen Roma als | |
Auszubildende annimmt aus Sorge, dass dann die Kunden wegbleiben. Weite | |
Teile der Minderheit vor allem in Ost- und Südosteuropa leben fernab jeder | |
Infrastruktur in segregierten Siedlungen, unter erbärmlichen Bedingungen | |
und ohne Perspektive auf gesellschaftliche Teilhabe. Eine medizinische | |
Versorgung existiert dort so gut wie nicht; die Kindersterblichkeit in | |
solchen Gettos beträgt oft das Mehrfache des Bevölkerungsdurchschnitts. | |
Die mediale Stigmatisierung der Minderheit verstärkt die Mechanismen der | |
Ausgrenzung noch. Und so nimmt es nicht wunder, dass sich die meisten | |
erfolgreichen Sinti oder Roma gezwungen sehen, ihre Zugehörigkeit zur | |
Minderheit zu verbergen. Die Unsichtbarkeit der etablierten Sinti und Roma | |
aus der bürgerlichen Mitte bestätigt und verfestigt wiederum das | |
allgegenwärtige Zerrbild der scheinbar ewigen Randgruppe. | |
Wissenschaftliche Untersuchungen, wie sie jüngst von der Universität | |
Leipzig oder vom Zentrum für Antisemitismusforschung durchgeführt wurden, | |
belegen, wie verbreitet antiziganistische Einstellungen auch in der | |
bundesdeutschen Bevölkerung sind. Unmittelbar nach der öffentlichen | |
Präsentation der Antiziganismus-Studie fand am Brandenburger Tor eine | |
Kundgebung statt, zu der der Zentralrat der Juden in Deutschland aufgerufen | |
hatte. Vertreter der Politik und der Kirchen wiesen auf den wachsenden | |
Antisemitismus hin, doch keiner der Redner erwähnte den gleichfalls | |
virulenten Antiziganismus auch nur mit einem Wort. | |
## Keine entschiedene Haltung der Politik | |
Diese Diskrepanz ist kennzeichnend nicht nur für die deutsche, sondern für | |
die europäische Politik insgesamt. Nach den furchtbaren Anschlägen in Paris | |
demonstrierten hochrangige Politiker aus ganz Europa ihre Solidarität mit | |
den jüdischen Staatsbürgern und ihre Entschlossenheit, allen Formen des | |
Antisemitismus offensiv entgegenzutreten. So wichtig diese | |
öffentlichkeitswirksame symbolische Geste war, so sehr vermisse ich eine | |
ebenso entschiedene Haltung der Politik mit Blick auf den gewaltbereiten | |
und oft genug tödlichen Rassismus gegen Sinti und Roma. | |
Historische Verantwortung ist unteilbar. Wer in grundlegenden Fragen der | |
Menschenrechte und der politischen Moral zweierlei Maßstäbe anlegt, der | |
beschädigt die Glaubwürdigkeit der europäischen Idee als Ganzes. | |
Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Staaten, konkrete Maßnahmen für | |
eine bessere gesellschaftliche Teilhabe von Sinti und Roma zu ergreifen. | |
Dazu gehören insbesondere Infrastruktur- und Bildungsprogramme, etwa die | |
Vergabe von Stipendien. An erster Stelle muss die Verbesserung der oft | |
menschenunwürdigen Wohnsituation vieler Roma stehen. Der Zentralrat | |
Deutscher Sinti und Roma hat mehrfach die Etablierung eines | |
Roma-Housing-Fonds gefordert, mit dem direkt auf lokaler Ebene interveniert | |
werden kann. | |
Kulturelle Projekte können überdies den Blick öffnen für die vielfältigen | |
Beiträge der Sinti- und Roma-Minderheiten zur Geschichte und Kultur ihrer | |
jeweiligen Heimatländer und damit zur europäischen Kultur insgesamt. | |
## Antiziganismus muss erforscht werden | |
Zusätzlich brauchen wir eine universitäre Antiziganismusforschung, die die | |
jahrhundertealten Wurzeln des Antiziganismus in der europäischen | |
Kulturgeschichte freilegt und so zum besseren Verständnis heutiger | |
Ausgrenzungsmechanismen beiträgt. | |
Seit Langem fordert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma einen | |
Expertenausschuss des Deutschen Bundestages, der sich, vergleichbar der | |
Antisemitismus-Kommission, mit aktuellen Erscheinungsformen des | |
Antiziganismus auseinandersetzt, regelmäßig Stellungnahmen dazu abgibt und | |
Gegenstrategien entwickelt. Nicht zuletzt muss Deutschland seine | |
Abschiebepraxis und Asylpolitik mit Blick auf die Roma aus dem Kosovo und | |
aus Serbien auf den Prüfstand stellen. Die derzeitige Politik leugnet | |
schlichtweg die Realitäten vor Ort. | |
Bei alledem gilt: Sinti und Roma waren und sind keine homogene Masse. | |
Patentrezepte kann es daher nicht geben. Letztlich werden es viele kleine | |
Schritte sein, werden wir einen langen politischen Atem brauchen, bis sich | |
die Lebens- und Menschenrechtssituation der Sinti- und Roma-Minderheiten in | |
ihren Heimatstaaten spürbar verbessert. | |
22 Apr 2015 | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Antiziganismus | |
Sinti und Roma | |
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma | |
deutsche Justiz | |
Schwerpunkt Flucht | |
Slowakei | |
Roma | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Todesstrafe | |
Antiziganismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Wilhelmsburg | |
Gedenken | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Erinnerungskultur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Aufarbeitung der Justiz: Späte Scham nach 60 Jahren | |
Der Bundesgerichtshof hat sechs Jahrzehnte gebraucht, um sich für ein | |
Schandurteil aus dem Jahre 1956 zu entschuldigen. | |
Roma protestieren in Hamburg: Keinen Schritt zurück | |
In Hamburg demonstrieren Roma für ein Bleiberecht – selbstorganisiert und | |
jedem Trend deutscher Abschiebepolitik zum Trotz. | |
Proteste in der Slowakei: Tausende gegen Einwanderung | |
In der Slowakei haben 8.000 Menschen gegen Einwanderung demonstriert, weil | |
das Land rund 800 Flüchtlinge aufnehmen soll. | |
Roma in der Slowakei: Die Siedlung am Rande der Stadt | |
Sollte die Romasiedlung Budulovská geräumt werden? Nein, heißt es in der | |
slowakischen Stadt Moldava nad Bodvou – nur ein bisschen. Ein Besuch. | |
Bericht zu Ungarn: Europarat kritisiert rassistische Hetze | |
In einem Bericht wird Ungarns Umgang mit Flüchtlingen und Roma getadelt. | |
Zudem beschränke sich öffentliche rassistische Hetze nicht auf das | |
rechtsextreme Spektrum. | |
EU nimmt sich Ungarn vor: Todesstrafe ist „niemals eine Lösung“ | |
Der ungarische Regierungschef Orban will über die Wiedereinführung der | |
Todesstrafe diskutieren. In der EU trifft er auf vehementen Widerspruch. | |
Rechte der Sinti und Roma: Nicht mehr weiter wie bisher | |
Rot-Grün in Niedersachsen plant einen Staatsvertrag, der die Kultur und | |
Identität der Sinti und Roma schützen und ihnen größere Chancen einräumen | |
soll. | |
Politische Korrektheit: Ich, Zigeuner | |
Wer „Sinti und Roma“ sagt, glaubt, es richtig zu machen. Man kann aber auch | |
„Zigeuner“ sagen. Solange man nicht ein fahrendes Volk mit dunklen Augen | |
meint. | |
Theater beim Gipsy-Festival: "Wir spielen keine Sinti" | |
Im Stück „Im Herzen von Hamburg“ setzt sich die freie Gruppe „Theater am | |
Strom“ gemeinsam mit Wilhelmsburger Schülern mit dem Verhältnis der Stadt | |
zu ihrer Sinti-Bevölkerung auseinander. | |
Essay Befreiung des KZ Buchenwald: Haben wir versagt? | |
Als Buchenwald befreit wurde, schworen wir, alles für eine neue Welt des | |
Friedens zu tun. Aber dieses Ziel ist nicht einmal in absehbarer Nähe. | |
Aus Le Monde diplomatique: Roma – Spielball im Staate Erdogan | |
Der Präsident nutzt die Roma, um die EU zu besänftigen. Doch sie werden als | |
Diebe, Drogenhändler, Gewalttäter diskriminiert. | |
Kunst der Sinti und Roma: Den NS auskotzen | |
Sie überlebte im Nationalsozialismus mehrere KZs. Ceija Stojka erzählte als | |
eine der Ersten von dem Leid und benutzt ihre Kunst als Waffe der | |
Emanzipation. | |
Stolpersteinerfinder Demnig über Kunst und Gedenken: „So ein Projekt ist gr�… | |
Der Künstler Gunter Demnig verlegt mittlerweile an 265 Tagen im Jahr | |
Stolpersteine. Trotzdem ist es für ihn nicht zur Routine geworden. |