Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Roma – Spielball im Staate Erdogan
> Der Präsident nutzt die Roma, um die EU zu besänftigen. Doch sie werden
> als Diebe, Drogenhändler, Gewalttäter diskriminiert.
Bild: Immer wieder zerplatzen die Träume der Roma auf Gleichberechtigung wie S…
Bahattin Turnali schlendert im eleganten schwarzen Anzug durch die
heruntergekommenen Straßen von Kustepe. Der Jungmanager blickt mit einem
nachsichtigen Lächeln auf die alten Häuschen des Viertels, in dem er
aufgewachsen ist: „Nach 21 Uhr fährt hier kein Taxifahrer mehr rein. Wegen
der Gewalt und dem Drogenhandel.“
Das Armenviertel Kustepe im Herzen Istanbuls hat 22.000 Einwohner. 6.000
davon sind Roma. Turnali führt uns durch ein Gewirr steiler Gassen. Da
ertönt der Ruf des Muezzins. Gegenüber der Moschee, in einem unauffälligen
Café, gibt Wirt Bülent Filyas den Ton an: „Zuallererst muss man sagen:
Unsere Situation ist gut.“
In Kustepe, wie überall in der großen türkischen Roma-Gemeinschaft, möchte
man gern daran glauben, dass ein neues Zeitalter begonnen hat. Seit fünf
Jahren demonstriert der Staat sein Entgegenkommen. 2010 ließ der damalige
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den abwertenden Ausdruck cingene
(Zigeuner) aus den türkischen Gesetzbüchern streichen. 2011 schaffte er das
– nie angewandte – Gesetz ab, Roma auszuweisen, die nicht offiziell
gemeldet waren oder als „nicht der türkischen Kultur angehörig“ betrachtet
wurden.
Am 14. März 2010 hielt er in einem Istanbuler Stadion vor 15 000 Roma aus
dem ganzen Land eine emotionale Rede und bat „im Namen des Staats“ um
Verzeihung für erlittene Demütigungen und Diskriminierungen. „Sogar die
türkischen Nichtroma achten jetzt mehr auf das, was sie sagen“, erzählt der
Blumenhändler Metin Salih Sentürk. Und der Wirt Filyas bekräftigt: „Das ist
eine Revolution!“
## Achtzig Jahre unsichtbar
Erdogans Maßnahmen kamen natürlich nicht aus heiterem Himmel. Davon
abgesehen, dass sie auch die EU-Kommission beeindrucken sollten, die
Fortschritte bei der Minderheitenfrage angemahnt hat, zeichnete sich
bereits seit dem Machtantritt der AKP-Regierung vor zwölf Jahren ein
Richtungswechsel ab. Man habe stets eine gewisse Offenheit gegenüber
Minderheiten demonstriert, meint Jean Marcou von der französischen
Beobachtungsstelle des politischen Lebens in der Türkei (Ovipot). Über
diesen Umweg habe man den Islam wieder in den öffentlichen Raum tragen
wollen.“
Achtzig Jahre lang waren die Roma im politischen Leben unsichtbar. Sie
pflegten zwar ihre Traditionen, doch sie gingen auch ganz in der
kemalistischen Republik auf. Sie leisten Militärdienst, sind wie die
Mehrheit Sunniten, sprechen dieselbe Sprache und verehren Kemal Atatürk,
den Gründer der modernen Türkei. Insbesondere die Nachkommen jener Roma,
die nach dem Ende des Griechisch-Türkischen Kriegs infolge des Lausanner
Vertrags 1923 ins Land gekommen waren, identifizieren sich stark mit dem
türkischen Staat. Die Umsiedlung aus Griechenland rettete ihre Vorfahren
zwanzig Jahre später vor dem deutschen Vernichtungsfeldzug, dem zwischen
1940 und 1944 hunderttausende Sinti und Roma in West- und Osteuropa zum
Opfer fallen sollten.
Man sollte die Situation aber nicht beschönigen. Wie überall in Europa sind
Roma und sprachliche Minderheiten mit ähnlichen Wurzeln, wie die
armenischen beziehungsweise georgischen Dom und Lom, auch in der Türkei
benachteiligt. Sie leiden unter hoher Arbeitslosigkeit, schlechter
medizinischer Versorgung und unwürdigen Wohnverhältnissen. Die Rate der
Schulabbrecher ist hoch. Viele Mädchen und Jungen heiraten immer noch viel
zu früh.
Unter den Jugendlichen von Kustepe ist besonders „Bonsai“ beliebt, eine
billige synthetische Droge, die sehr schnell abhängig macht. Sie tauchte
2010 zum ersten Mal auf. Diskriminierung und Segregation sind unbestreitbar
Realität, auch wenn offene Gewalt gegen Roma seltener vorkommt als in
anderen Ländern.
## Keine Autonomieforderungen
Am Abend erwacht das Leben auf dem Hauptplatz von Kustepe. Adem Hasan Aglu,
eine imposante Gestalt mit graumeliertem Haar, ist kein Rom, aber trotzdem
Vorsitzender des Istanbuler Vereins „Stimme der Roma“. Seitdem er vor
zwanzig Jahren eine Romni geheiratet hat, engagiert er sich für die Roma.
„Meine Frau ist praktizierende Muslimin. Sie trägt ein Kopftuch. Wir haben
zwei Kinder. Trotzdem hat meine Familie sie bis heute nicht akzeptiert,
weil sie eine Romni ist.“ Ein Nachbar mischt sich ein: „Der Lebenswandel
der Roma verunsichert die Leute. Sie leben in den Tag hinein, ohne sich um
die Zukunft zu kümmern.“
Auch Bahattin Turnali hat einen Verein gegründet – gegen Diskriminierung
und für Bildung (Egkam), um die Spirale der Armut zu unterbrechen. Er
unterstützt Familien, damit sie ihre Kinder nicht von der Schule nehmen.
Seit 2010 entstehen immer mehr solcher kleinen Organisationen und mit ihnen
eine neue Generation von gebildeten und politisch aktiven Wortführern. „Nur
wenige von uns haben studiert“, erzählt Turnali, der an der Universität
Istanbul mit zwei Diplomen abgeschlossen hat. „Heute bin ich so etwas wie
ein Vorbild.“
Die junge Istanbuler Dokumentarfilmerin Elmas Arus hat 2010 den Verein
„Null Diskriminierung“ gegründet. Im März 2010 ergriff sie bei einem
Treffen, zu dem der damalige Ministerpräsident Erdogan eingeladen hatte,
öffentlich das Wort. Ihre Familie versteht ihr Engagement nicht. „Meine
Mutter sagt, ich solle mich schämen, dass ich mich noch für diese Fragen
interessiere, wo ich doch in guten Verhältnissen lebe. Sie ist gar nicht
stolz darauf, Romni zu sein. Deshalb hat sie ihre Geschichte und ihre
Sprache vergessen.“
Die Roma-Initiative war für Erdogan eine Maßnahme ohne Risiko. Im
Unterschied zu den Kurden stellen die Roma keine Autonomieforderungen. Sie
zeigen kaum Solidarität mit anderen Roma in Europa, weil sie weder deren
lange Verfolgungsgeschichte, Glauben oder Gebräuche teilen. „Erdogan hat
sie wie Menschen behandelt, weil er sie sichtbar gemacht hat. Das reicht
ihnen schon“, erklärt Elmas Arus. Abgesehen von schönen Worten ist die
Bilanz eher mager. Die Regeln zur Feststellung der Personenstandsdaten bei
bestimmten Familien, besonders bei den Nomaden im Osten der Türkei, wurden
vereinfacht. Roma bekommen mittlerweile zwar auch Sozialwohnungen, und der
Dialog zwischen Regierung und Roma-Organisationen hat sich verbessert. Doch
darüber hinaus geht es mit den sozioökonomischen Fortschritten kaum bis gar
nicht voran.
Doktor Didem Evci, die uns mit zwei Assistentinnen in ihrem Büro empfängt,
deutet an, dass das von ihr geleitete Forschungszentrum für die Kultur der
Roma eigentlich nur eine leere Hülle ist. Das von Erdogan vor drei Jahren
initiierte Institut hat Erwartungen geweckt, doch es gibt immer noch keine
konkreten Ergebnisse. „Nur ein Name und ein paar Dokumente“, sagt abfällig
eine Mitarbeiterin der Adnan Menderes-Universität in Aydin, wo das
Forschungszentrum angegliedert ist. Auch der Soziologe Ayhan Kaya glaubt
nicht an Erdogans Aufrichtigkeit: „Ohne die Hoffnung auf eine Annäherung an
die EU hätte Erdogan die Roma nie auf seine Agenda gesetzt, obwohl sie
Muslime sind.“
## Der erste Rom im türkischen Parlament
Auch der Blick auf andere Bereiche lässt vermuten, dass der türkischen
Regierung doch nicht so viel daran gelegen ist, die Situation der Roma zu
verbessern. Zum Beispiel bei den Programmen zur Stadterneuerung. In dem
großangelegten Sanierungsplan von 2012 gerieten vornehmlich die
Roma-Viertel in den Stadtzentren ins Visier der Planer – wegen unhaltbarer
hygienischer Verhältnisse und der Erdbebengefahr, die von den Beamten
teilweise ziemlich aufgebauscht wurde.
Niemand bestreitet die Notwendigkeit, dass etwas unternommen werden muss.
Aber die Roma-Vereine wehren sich gegen die Allmacht der Behörden und die
zerstörerischen Auswirkungen der Umsiedlung. Der erzwungene Wohnortwechsel
weit weg von den alten Vierteln unterbricht die Schullaufbahn ihrer Kinder,
führt zum Verlust des Arbeitsplatzes und „kann negative Auswirkungen auf
den sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft haben“, schreibt das Europäische
Zentrum für die Rechte der Roma.
Vor zehn Jahren wurde beschlossen, das fast tausendjährige Roma-Viertel
Sulukule im Zentrum von Istanbul zu sanieren. 3 500 Bewohner mussten ihre
Grundstücke zwangsweise verkaufen und wurden vierzig Kilometer entfernt neu
angesiedelt. Doch weil sie sich die höheren Mieten und die durch den Umzug
entstandenen Pendelkosten nicht leisten konnten, kehrten viele Familien
wieder nach Sulukule zurück, wo sie heute unter erbärmlichen Bedingungen
hausen. „Wir haben das Problem immer wieder der Regierung vorgelegt, aber
sie hat sich taub gestellt, weil sie hier keine Roma mehr wollte“, schimpft
Hacer Fogo vom Europäischen Zentrum für die Rechte der Roma, das bis heute
vor Gericht um Entschädigungen kämpft.
Die Verarmung droht die Bemühungen um Anerkennung zu untergraben. Im
September 2013 wurde in der Stadt Bursa ein junger Rom bei einem Streit
unter Nachbarn getötet. Hintergrund der Auseinandersetzung war die
vorangegangene Umsiedlung von Roma, deren Viertel renoviert wurde. Als das
Parlament vom Bürgermeister Aufklärung verlangte, verkündete der ungerührt:
„Die meisten Roma leben von Diebstahl, Drogenhandel und Gewalt.“ Die
dreizehn Romakinder aus dem Viertel wurden in der Grundschule in eine
Sonderklasse gesteckt.
Allmählich weicht die anfängliche Begeisterung wachsender Sorge und
Ungeduld. „Vor den Wahlen versprechen uns die Leute alles, um unsere
Stimmen zu bekommen, doch das war’s auch schon. Die nehmen uns gar nicht
richtig wahr“, schimpft Turnali. Aber die Zeiten ändern sich, und bei den
Aktivisten wächst die Lust, selbst in die Politik zu gehen. Das könnte sich
schon bei den nächsten Parlamentswahlen 2015 bemerkbar machen. „Es gibt
keinen einzigen Rom im türkischen Parlament“, sagt Turnali. Und genau das
will er ändern: „Ich werde der erste sein, inschallah!“
26 Mar 2015
## AUTOREN
Marie Chambrial
Erwan Manac'H
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
Istanbul
Roma
umsiedlung
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Rassismus
Islam
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Roma protestieren in Hamburg: Keinen Schritt zurück
In Hamburg demonstrieren Roma für ein Bleiberecht – selbstorganisiert und
jedem Trend deutscher Abschiebepolitik zum Trotz.
Debatte Antiziganismus: Wir sind keine Fremden
70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus sind die Ressentiments
gegen Roma und Sinti enorm. Das lässt sich ändern.
Machtfülle des türkischen Präsidenten: Erdogans Mission
Mit seiner Paranoia-Politik verabschiedet sich der türkische Präsident
Recep Tayyip Erdogan vom Laizismus. Und keiner hält ihn auf.
Vorurteile gegen Minderheiten: Feindbild Roma und Sinti
Sinti und Roma in Deutschland sind die Minderheit, die auf die größte
Ablehnung stößt. Menschenrechtler fordern deutlich mehr Schutz.
Gentrifizierung in Istanbul: Raus mit allen Underdogs
In Istanbul muss das Stadtviertel Tarlabasi den Entwicklungsvisionen der
AKP weichen. Darunter leiden besonders die kurdischen Bewohner.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.