# taz.de -- Machtfülle des türkischen Präsidenten: Erdogans Mission | |
> Mit seiner Paranoia-Politik verabschiedet sich der türkische Präsident | |
> Recep Tayyip Erdogan vom Laizismus. Und keiner hält ihn auf. | |
Bild: Der neue Atatürk: Erdogan spricht zu den Massen. | |
„Möchtegern-Sultan“, „muslimischer Fundamentalist“, „Allah des Statu… | |
– der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan polarisiert, und | |
entsprechend vielfältig sind die Beleidigungen durch seine Gegner. | |
Seit er die politische Bühne betreten hat, ist er eine Reizfigur, vor allem | |
für Liberale und Kemalisten. Diese sehen in Erdogans Einsatz für die | |
Belange der Religiösen und seine offen gelebte Frömmigkeit zu Recht den | |
Laizismus des Landes in ernster Gefahr. | |
Eine Fundgrube für Erdogans islamisch-sunnitische Logik bieten schon seine | |
frühen Äußerungen: Noch in der Lokalpolitik aktiv, sagte er einmal, er habe | |
am liebsten jeden Händedruck mit „fremden“ Frauen vermeiden wollen, weil er | |
dies als unislamisch empfinde. Wenn eine Berührung mit dem anderen | |
Geschlecht sich doch nicht vermeiden ließ, habe er im Stillen Gott um | |
Verzeihung gebeten. | |
Damals bezeichnete er sich auch als „Diener der Scharia“ und schlug vor, | |
Parlamentssitzungen durch das Rezitieren von Koransuren zu eröffnen. | |
Erdogan gratulierte den Taliban zur „Gründung einer islamischen Republik“, | |
und sagte Sätze wie: „Dass dem Volke die Souveränität ohne Wenn und Aber | |
gehört, ist eine große Lüge, mit Sicherheit ist nur Allah der Souverän“. | |
## Geschlechtertrennung | |
Im Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul – das er von 1994 bis 1998 | |
innehatte – verbot er den Alkoholausschank in städtischen Lokalen, | |
kritisierte, Ballett sei sexuell erregend, und schlug Geschlechtertrennung | |
in Schulen vor. Er hetzte gegen die „Versklavung der Türkei durch die Nato“ | |
und befand, ein wahrer Muslim könne sich nicht zum verfassungsrechtlich | |
verankerten Laizismus bekennen. | |
Später, als Ministerpräsident, bediente er seine religiösen Wähler | |
weiterhin mit konservativen Äußerungen. Erdogan forderte getrennte | |
Studentenwohnheime und befand immer wieder, dass Frauen in den privaten, | |
familiären Bereich gehören. Als ein Parteimitglied unverschleierte Frauen | |
als ein „Haus ohne Vorhänge“ bezeichnete, das man „mieten oder kaufen“ | |
könne, kam kein distanzierendes Wort vom Vielredner Erdogan. | |
Doch wäre es billig, Erdogan nur wegen seiner frühen Aussagen als Gläubigen | |
mit einer religiösen Agenda zu bezeichnen. Aber noch heute macht er es mit | |
seiner berüchtigten Rhetorik seinen Gegnern einfach, ihn als Islamisten | |
darzustellen. | |
Nach seinem Wahlsieg zum Präsidenten am 10. August letzten Jahres versprach | |
er zwar eine „neue Türkei“, mit einer starken Demokratie, doch nur wenige | |
Monate später schreitet die Islamisierung der säkularen Republik immer | |
weiter voran. | |
## Verpflichtender Koranunterricht | |
Ende November warf Erdogan dem Westen vor, Muslime ausbeuten zu wollen. | |
„Sie scheinen vordergründig unsere Freunde zu sein, aber freuen sich über | |
unseren Tod und über den Tod unserer Kinder“, sagte er. Und bei einer | |
anderen Gelegenheit schimpfte er: „Ich wurde angegriffen, als ich fragte, | |
warum Koranunterricht nicht genauso verpflichtend sein könne wie Physik.“ | |
Dann kündigte er an, in Schulen werde künftig auch Türkisch aus der | |
osmanischen Zeit unterrichtet werden, „damit die Jugend ihre Geschichte | |
lernt“. Für Aufmerksamkeit sorgte das Staatsoberhaupt auch mit seiner | |
These, muslimische Seefahrer hätten Amerika bereits Jahrhunderte vor | |
Kolumbus entdeckt. Für Kemalisten ist diese gesellschaftliche Entwicklung | |
eine enorme Provokation. | |
Besonders deutlich wird dies im Gespräch mit Ali Mehmet Celal Sengör. Man | |
könnte ihn salopp als „Hardcore-Kemalisten“ bezeichnen, er verkörpert all | |
das, wofür der Staatspräsident nicht steht. Sengör ist ein Kosmopolit, | |
geboren 1955 in Istanbul, wuchs in einer reichen Familie auf, wegen seiner | |
deutschen Tagesmutter spricht er fließend Deutsch. | |
Der Geologe studierte in New York, war unter anderem Gastwissenschaftler im | |
britischen Oxford, seit 1992 ist er Professor an der Technischen | |
Universität Istanbul. „Ich bin der angesehenste Wissenschaftler der | |
Türkei“, sagt er sehr selbstbewusst, und es stimmt: Er ist der bekannteste | |
Geologe seiner Heimat. | |
Der beleibte Mann mit grauem Haar und Bart sitzt barfuß im Jogginganzug in | |
seiner riesigen Privatbibliothek im Keller seiner Istanbuler Villa, die | |
mehr als 30.000 Bücher beherbergt, und kommentiert das unterirdische, | |
dunkle Labyrinth mit den roten Samtvorhängen: „Hier ist es sicherer als der | |
Führerbunker.“ | |
## Glauben und Politik | |
Sengör ist aber nicht nur als Forscher bekannt, er gehört auch zu den | |
lautesten Atheisten der Türkei – und zu den schärfsten Kritikern des | |
Systems Erdogan. „Ich bin Verteidiger der Menschheit, der Zivilisation“, | |
sagt er aus tiefer Brust heraus. „In einer Zivilisation können viele | |
Meinungen nebeneinander existieren, ohne dass sich die Menschen einander | |
umbringen. | |
Es gibt offene, kritische Diskussionen, an denen sich alle beteiligen | |
können. Das ist in der Türkei aber nicht möglich“, poltert er. Dann holt er | |
kurz Luft, trinkt aus seiner Cola-Dose und sagt: „Die Türkei hat dasselbe | |
Kulturniveau wie Afghanistan. Denn Glauben und Politik gehören nicht | |
zusammen, das ist keine Demokratie“. | |
Verachtung gegenüber den religiösen Massen, die hinter Erdogan stehen, | |
sieht er in seiner Haltung nicht – „ganz im Gegenteil, ich will die | |
Menschen retten. Ein religiöser Mensch zu sein, das ist menschenfeindlich.“ | |
Dann holt er aus, argumentiert mit historischen, blutigen Episoden, | |
schmeckt seinen Worten nach, will wissen, wie diese wirken. „Religion geht | |
nie vorwärts, sondern immer rückwärts. Glauben lässt keine Kritik zu und | |
ist deswegen eine menschliche Sünde.“ | |
Deswegen mache ihm der stramme islamische Glauben, den die Regierung | |
vertrete, Angst. „Ich habe Furcht vor der Regierungspartei AKP, sie bedroht | |
die Wissenschaft und die Zivilisation, die unter dem Republikgründer | |
Mustafa Kemal Atatürk entstanden ist.“ | |
## Korruptionsvorwürfe | |
Als ob diese Brachialkritik noch nicht ausreicht, legt er nach – und zeigt | |
dabei die tiefen Gräben, die alte Eliten und AKP-Anhänger trennen: „Sie | |
haben die Verfassung so oft verletzt, sie haben kein Recht mehr, zu | |
regieren. Und sozial sind sie so viel niedriger als ich, ich kann diese | |
Leute nicht ernst nehmen“ | |
Sengörs Kritik brachte ihm schon reichlich Ärger ein: Als er 2008 in den | |
Hochschulrat, dem obersten Organ des Hochschulsystems, gewählt werden | |
sollte, hat sich die Regierung eingeschaltet und dies verhindert. „Der | |
damalige Präsident Abdullah Gül, auf den die Europäer reinfallen, wollte | |
mich nicht. Ich hätte als Mitglied des Hochschulrats zu viel Lärm machen | |
können.“ | |
Die hochschulpolitische Agenda des Geologen steht den AKP-Zielen, die | |
Religiöse integriert und stärkt, diametral entgegen: Sengör würde gerne | |
religiöse Symbole an der Universität verbieten lassen, sieht darin | |
„politische Waffen“. | |
Frauen mit Kopftüchern sollen seiner Meinung nach erst gar nicht auf den | |
Campus. „Wegen meiner Meinung wollte man mich zwar nicht in den Kerker | |
sperren, man wollte mich nur verhindern. Aber ich habe keine Angst, nur | |
diejenigen, die an Allah glauben, haben Angst.“ | |
Trotz handfester Korruptionsvorwürfe, Aushebelung des Säkularismus, | |
schwerer Auseinandersetzungen im islamisch-konservativen Lager und | |
außenpolitischer Misserfolge gelang es der AKP bisher dennoch, die Wahlen | |
zu gewinnen. Wie kann das sein? | |
„Die AKP ist wie eine Mafia, einige Menschen müssen sie aus Angst | |
unterstützen, einige sind Mitläufer, manche sind an den Verbrechen | |
beteiligt“, so Sengör. | |
## Ein-Mann-Staat | |
Die Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres wird die AKP wieder gewinnen, | |
nicht unwahrscheinlich, dass sie erneut über 50 Prozent der Stimmen | |
bekommen wird. Und während Erdogan die Türkei in einen islamischen | |
„Ein-Mann-Staat“ umbaut, verabschiedet sich die Regierung Schritt für | |
Schritt von dem immer noch obligatorischen Laizismus. | |
Die Symbole der „alten“ Republik werden langsam von Erdogans Mischung aus | |
Modernisierung und konservativer Frömmigkeit verdrängt. So steht | |
beispielsweise auf dem Marktplatz des Istanbuler Stadtteils Kayasehir, | |
anders als in türkischen Städten üblich, nicht die obligatorische Statue | |
Atatürks. Stattdessen prangt dort eine Statue der staatlichen | |
Baugesellschaft „Toki“ mit Dank an Erdogan – daneben eine Moschee und ein | |
modernes Einkaufszentrum. | |
Nachdem während eines Erdbebens im osttürkischen Van eine Schule | |
einstürzte, eröffnete Erdoan 2012 lächelnd eine neue Schule an der gleichen | |
Stelle. Benannt wurde diese nicht, wie meistens üblich, nach Atatürk, | |
sondern nach Erdogans verstorbener Mutter Tenzile. | |
Erdogan will die Republik zu ihrem 100. Geburtstag im Jahr 2023 führen, | |
nicht auszuschließen, dass es sich dann auf den Lirascheinen und Münzen, | |
auf denen Porträts des streng säkularen Atatürks abgebildet sind, auch | |
Bilder des streng muslimischen Erdogan befinden. | |
20 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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