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# taz.de -- Türkische Großmannssucht: Erdogan sucht den Super-Muslim
> Kein Tag vergeht, an dem der Präsident nicht irgendeinen Blödsinn
> erzählt. Doch neu ist nicht der Größenwahn, sondern der Rückgriff auf den
> Islam.
Bild: Geschichtsstunde mit Recep Tayyip Erdogan.
„Mit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 begann die Renaissance. In
der Renaissance erfanden der Deutsche Gutenberg und die uigurischen Türken
den Buchdruck.“ Klingt nach Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, ist aber
älter und stammt aus einem türkischen Geschichtsbuch fürs Gymnasium aus den
neunziger Jahren (dessen Verfasser es aber leider offenließen, weshalb die
Uiguren, wo sie schon den Buchdruck erfunden hatten, nicht auch ein paar
Bücher gedruckt haben.)
Ebenfalls in den neunziger Jahren lernten türkische Philosophiestudenten,
dass die Philosophie von den Sumerern erfunden wurde, die Sumerer aber
Türken waren, also die Türken die Philosophie erfunden hatten (eat this,
Grieche!). Aus den Medien wiederum konnte man – und kann man bis heute –
erfahren, wer in Wirklichkeit alles Türke war: [1][Goethe], [2][Lincoln],
[3][Elvis].
So gesehen ist Erdoğans Behauptung, muslimische Seefahrer hätten [4][314
Jahre vor Christoph Kolumbus Amerika entdeckt], die er am Wochenende noch
einmal wiederholte, gar nicht so außergewöhnlich. In dieses Bild passt
auch, dass Erdoğan am Montag darüber klagte, türkische Jugendliche würden
Einstein, aber nicht Ibn Sina nicht kennen, und sich bei dieser Gelegenheit
auch darüber beschwerte, dass die Jugendlichen die Namen ausländischer
Popmusiker auswendig aufsagen könnten, sich aber schämen würden, den
Volksmusiker Neşet Ertaş zu hören.
## Weg vom islamischen Einfluss
Derlei Sottisen kennt man aus vielen anderen Ländern. In der Türkei reichen
sie zurück bis in die frühen dreißiger Jahre, als die „Türkische
Geschichtsthese“ (Die Türken waren schon immer in Anatolien) und die
„Sonnensprachtheorie“ (Das Türkische ist der Ursprung aller Weltsprachen)
zur Staatsideologie erklärt wurden.
Beide Theoreme waren Teil des nation building unter dem Staatsgründer
Atatürk, als man versuchte, sich von arabisch-islamischen Einflüssen
abgrenzend und unter Rückgriff auf eine tatsächlich oder erfundene
vorislamische Geschichte eine Nationalideologie zu basteln (ganz ähnlich
den Vordenkern des Deutschtums wie Fichte, Herder oder Arndt, über die
schon Marx spottete, sie suchten die „deutsche Freiheitsgeschichte“ in den
„teutonischen Urwäldern“).
Nach Atatürks Tod 1938 wurden beide Theoreme allmählich aufgegeben, ihre
Reste aber spukten noch lange umher – so eben auch in jenem Lehrbuch über
die Geschichte der Philosophie. Unter Erdoğan und seiner AKP ist der
türkische Nationalismus nun nicht verschwunden, tritt aber an die zweite
Stelle. Wo beispielsweise noch vor ein paar Jahren Kritiker wegen
„Verunglimpfung des Türkentums“ angeklagt wurden, werden heute [5][Prozesse
wegen „Verunglimpfung der Religion“ geführt]. Da ist es nur folgerichtig,
dass Erdoğan auch nach muslimischen Referenzen aus der Geschichte sucht.
## Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex
Doch schon die „Türkische Geschichtsthese“ und „Sonnensprachtheorie“
erfüllten nicht nur einen ideologischen Zweck, sie waren zugleich
unfreiwilliger Ausdruck einer bestimmten soziopsychologischen Disposition:
einer Mischung aus Großmannssucht und Minderwertigkeitskomplex (und einer
gehörigen Portion Verfolgungswahn), die sich mit den Niedergang des
Osmanischen Reiches von der Weltmacht zum „Kranken Mann am Bosporus“
breitmachte (Leitartikler würden sagen: „sich in die DNA der politischen
Kultur einschrieben.“). Diese Disposition ist immer noch quicklebendig und
bei Erdoğan offensichtlich besonders ausgeprägt.
Das bedeutet freilich nicht, Muslime oder Türken hätten zur
Zivilisationsgeschichte der Menschheit nichts beigetragen; so war Ibn Sina
(in Europa als Avicenna bekannt), dessen mangelnde Bekanntheit Erdoğan nun
beklagt, ein sehr bedeutender, persischer Philosoph und Mediziner des
frühen 11. Jahrhunderts. Doch wenn Erdoğan einen wie ihn gegen Einstein in
Stellung bringt, geht es nicht bloß um Volksbildung. Es geht um die immer
deutlichere Abgrenzung von der westlichen Welt, der er erst vor einigen
Tagen bescheinigte, [6][sie erfreue sich am Tod muslimischer Kinder].
Mit solchen Vergleichen macht Erdoğan, ohne es zu wollen, auf noch etwas
aufmerksam: dass nämlich die meisten großen Leistungen der islamischen Welt
lange zurückliegen.
## Nicht erfinden, aber anwenden
Unter den bedeutenden Denkern aus der klassichen Epoche der islamischen
Zivilisation finden sich auch nicht allzu viele Türken; mit den Erfindungen
der Deutschen (Buchdruck, Ottomotor, industriell-wahnhafte
Menschenvernichtung) können die Türken jedenfalls nicht mithalten.
Aber vielleicht besteht deren größte Stärke auch weniger im Erfinden als im
Anwenden. Zum Beispiel Twitter. Das mögen andere Leute erfunden haben, in
der Anwendung macht den Türken niemand etwas vor, schon gar nicht die
Deutschen.
Das zeigt sich in den Nutzerzahlen. Das zeigte sich aber auch Anfang des
Jahres, als die Türken [7][massenhaft die Twittersperre zu umgehen
wussten]. Und schließlich zeigt sich dies in der Art und Weise, wie sie
gelernt haben, Twitter als Instrument der oft humorvollen Kritik
einzusetzen – kein Vergleich zu den kümmerlichen Witzeleien, die
hierzulande meist in der Rubrik „So lacht das Netz über…“ laufen. So
kursierten schon wenige Stunden nach Erdoğans Einlassungen über die
Entdeckung Amerikas Bilder, die dessen Gesicht in die Porträts bedeutender
historischer Figuren wie Kolumbus oder Edison montiert zeigten (siehe Bild
oben).
Und vermutlich war es auch ein Türke, der als erster durch heftiges
Draufhauen ein defektes Radiogerät wieder zum Laufen brachte. Ganz sicher
war es so.
3 Dec 2014
## LINKS
[1] http://www.ensonhaber.com/alman-yazari-goethe-turk-cikti-2013-01-09.html
[2] http://www.usakgundem.com/haber/6439/amerikalilarin-atalari-t%C3%BCrk-%C3%A…
[3] http://www.zaman.com.tr/tv-rehberi_elvis-presley-turk-mu_1213142.html
[4] /!149573/
[5] /!139991/
[6] /!150335/
[7] /!135348/
## AUTOREN
Deniz Yücel
## TAGS
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