# taz.de -- Essay zum Amtsjubiläum: 100 Jahre Erdogan | |
> Vor hundert Tagen trat Erdogan das Amt des türkischen Staatspräsidenten | |
> an. Er redet wirrer und hat einen „bad cop“ an der Seite. | |
Bild: Neue Kleiderordnung: Recep Tayyip Erdogan bei der Stimmabgabe. Ankara, Pr… | |
Seit hundert Tagen ist Recep Tayyip Erdoğan nun Staatspräsident der Türkei. | |
Gemäß einer – na sicher – amerikanischen Tradition ist das Zeit für eine | |
erste Bilanz: Ist der Mann, der als Regierungschef immer autoritärere Züge | |
gezeigt hatte, moderater, gar versöhnlicher geworden? Und hält er sich aus | |
dem, was man so schön „Tagespolitik“ nennt, heraus? Schließlich hat der | |
Staatspräsident in der Türkei verfassungsgemäß ähnliche Aufgaben wie der | |
Bundespräsident: Er darf Gesetze blockieren, ansonsten aber soll er | |
repräsentieren. | |
Nun, dass Erdoğan bloß den Grüßaugust abgeben würde, war nicht zu erwarten. | |
„Auch diejenigen, die mich nicht gewählt haben, haben heute gewonnen“, | |
sagte er bei seiner [1][Balkonrede am Wahlabend] Mitte August und kündigte | |
an, er werde künftig mit seinen Gegnern zusammenarbeiten. Eigentlich sind | |
das bloß die bei solchen Anlässen üblichen Phrasen, die aber nur deshalb | |
aufhorchen ließen, weil man von ihm ganz anderes kannte. | |
Die wilden Drohungen etwa, die er am Abend der Kommunalwahl Ende März an | |
die [2][Adresse seiner Gegner verschickt hatte], als klar geworden war, | |
dass er trotz des Gezi-Aufstands und der Korruptionsermittlungen weiterhin | |
eine (knappe) Mehrheit der Wähler hinter sich wissen konnte. | |
## Science-Fiction-Fantasien | |
Mindestens so verstörend war sein Auftritt Mitte Mai in Soma, wo bei einem | |
Grubenunglück 301 Bergarbeiter gestorben waren. Solche Dinge würden nun mal | |
passieren, sagte er und zählte Grubenunglücke aus dem Europa des 19. | |
Jahrhunderts auf, während einer seiner [3][Berater auf Demonstranten | |
einprügelte]. | |
Nach dem [4][Grubenunglück von Ermenek] Anfang November, bei dem 18 | |
Menschen starben, sprach Erdoğan davon, man müsse in den Bergwerken auf | |
Roboter umstellen – ein wahrlich großer Sprung innerhalb kürzester Zeit vom | |
England des 19. Jahrhunderts zu Science-Fiction-Ideen von | |
vollautomatisierten Bergwerken. Man kann dies als moderateres Auftreten | |
werten. Oder als Ausdruck eines immer mehr entrückten Geisteszustands | |
dieses Mannes. Wahrscheinlich war es beides auf einmal. | |
Immerhin verschob er die für den Tag des Unglücks [5][geplante Einweihung | |
seines neuen Protzpalastes], was schon als Empathie gedeutet wurde. Die | |
Ansprüche sind eben niedrig. Dabei haben Vorfälle wie die in Soma und | |
Ermenek System; mit 1.235 tödlichen Arbeitsunfällen im vorigen Jahr belegt | |
die Türkei in Europa einen einsamen Spitzenplatz. Fast schon zwingende | |
Folge des Programms, dem sich die AKP verschrieben hat: entfesselter | |
Kapitalismus plus Islam. | |
An anderer Stelle, bei den [6][Solidaritätsdemonstrationen für das | |
bedrängte Kobani], witterte er wie gehabt „dunkle Mächte“ am Werk und | |
meinte mehrfach, der „Islamische Staat“ sei genauso terroristisch wie die | |
kurdische PKK – ein Auftreten, das den im vorigen Jahr begonnen | |
Friedensprozess mit der PKK fast zum Ende gebracht hätte. | |
## Der quäkende Medwedjew | |
Dabei ist für diese Fragen sein Nachfolger Ahmet Davutoğlu zuständig. Der | |
Politikprofessor gilt als Mastermind der [7][neo-osmanischen Außenpolitik], | |
der sich die AKP-Regierung seit einigen Jahren verschrieben hat, also der | |
Abwendung von der westlichen Welt und den Träumen von der | |
Wiederauferstehung der türkisch-islamischen Regionalmacht. Auch die | |
türkische Syrien-Politik war eine Folge dieser Träumereien, samt der | |
verdeckten Unterstützung für die Dschihadisten. Noch im August | |
verniedlichte Davutoğlu den „Islamischen Staat“ als Organisation, die zwar | |
„radikal und terrorisierend“ erscheine, die aber „eine Reaktion“ sei. N… | |
eines war Davutoğlu nie: ein Beißer. Darin versucht er sich im neuen Amt. | |
Und das ist wohl auch die wichtigste Veränderung der vergangenen Wochen: Im | |
türkischen Fernsehen sieht man nun nicht nur Erdoğan, wie er über die | |
[8][Ungleichheit von Mann und Frau, die Entdeckung Amerikas] oder den sich | |
über tote muslimische Kinder freuenden Westen sinniert , hinzu kommt | |
Davutoğlu, der sich mit Dauergrinsem und quäkender Stimme als politischer | |
Führer zu inszenieren versucht. | |
Die alte Rollenverteilung zwischen Erdoğan und dem früheren Staatspräsident | |
Abdullah Gül ist passé; statt gutem Bullen und schlechtem Bullen gibt es | |
nur noch zwei schlechte Bullen mit ungleicher Überzeugungskraft. Und mit | |
ungleichen Kompetenzen: Jeder weiß, wer hier der Putin und wer bloß der | |
Medwedjew ist. | |
Apropos Putin: Von dem hat sich Erdoğan nicht nur die Idee mit dem | |
Hilfsministerpräsidenten abgeschaut. Auch sonst ähneln sich beide darin, | |
unter der formalen Beibehaltung der Demokratie an der Etablierung einer | |
De-facto-Alleinherrschaft zu arbeiten. Bislang standen gegensätzliche | |
Interessen in Syrien oder auf der Krim einer engeren politischen | |
Zusammenarbeit im Weg. | |
[9][Aber auf dem Treffen vergangene Woche] hat man beschlossen, künftig | |
enger zusammenzurücken. Und natürlich verkündete Putin den Verzicht auf den | |
Bau der South-Stream-Leitung nach seiner Zusammenkunft mit Erdoğan und | |
nicht etwa nach dem Treffen mit Davutoğlu. Vielleicht entsteht da eine neue | |
Allianz, Brüder im Geiste sind sie allemal. | |
## Die „neue Türkei“ | |
Seit Jahren gibt Erdoğan für seine Amtszeit eine Jahreszahl an: 2023, den | |
hundertsten Geburtstag der Republik, bis zu dem er seine „neue Türkei“ | |
aufgebaut haben will: wirtschaftlich stark, politisch einflussreich und | |
islamisch bis in die Bartspitzen. | |
Auf diesem Weg hat Erdoğan gegen Widerstände zu kämpfen, kann aber beinahe | |
täglich Erfolgsmeldungen verbuchen. So wurde am Donnerstag bekannt, dass | |
die Zahl der Schüler an religiösen Schulen in der Amtszeit der AKP [10][um | |
das Sechsfache auf eine knappe halbe Million gestiegen ist]. Und darum geht | |
es Erdoğan letztlich: die Gesellschaft so umzukrempeln, dass Staatsgründer | |
Atatürk in Vergessenheit gerät, man dafür aber noch in hundert Jahren einen | |
anderen als Staatsgründer feiern wird: Recep Tayyip Erdoğan. | |
5 Dec 2014 | |
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## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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