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# taz.de -- Debatte Russland und die Türkei: Es geht nicht nur ums Gas
> Putin und Erdogan bilden eine neue geopolitische Achse gegen Europa. An
> dieser Opposition ist auch die westliche Arroganz schuld.
Bild: Zu Besuch: Putin bei Erdogan im Dezember 2014 in Ankara.
Als Wladimir Putin Anfang Dezember in Ankara [1][das Aus der geplanten
Gaspipeline South Stream] verkündete, hielten das die meisten Kommentatoren
in Deutschland für eine energiepolitische Nachricht. Viele sahen darin auch
ein Eingeständnis, dass Russland die enormen Kosten, die der Bau der
Gaspipeline durch das Schwarze Meer erfordern würde, offenbar nicht mehr
stemmen kann. Sie lagen falsch.
Zweifellos ist die Ankündigung des russischen Präsidenten, keine Pipeline
mehr nach Bulgarien und weiter in die EU bauen zu wollen, eine wichtige
energiepolitische Entscheidung. Doch vor allem ist sie Indiz für eine
grundsätzliche strategische Umorientierung Russlands, die auf neue/alte
geopolitische Konstellationen hindeutet.
Es war kein Zufall, dass Putin sich für die Bekanntgabe des Aus für South
Stream ein Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in
Ankara ausgesucht hat. Schon da deutete Putin an, dass der Kreml nicht
ersatzlos auf South Stream verzichten will, sondern erwägt, statt Bulgarien
die Türkei zum Umschlagplatz für russisches Gas zu machen.
Gazpromchef Alexei Miller hat das dann einige Tage später im russischen
Fernsehen präzisiert. Russland will zukünftig die Türkei zu einem
strategischen Partner für den Verkauf von russischem Gas machen. Man werde
die begonnene Gaspipeline weiterbauen und dazu eine neue Firma gründen. Die
wird dann eine Röhre unter dem Schwarzen Meer in die Türkei legen, durch
die zusätzlich zu der bereits bestehenden, „Blue Stream“ genannten
Gaspipeline von Russland nach Ankara, weitere 50 Milliarden Kubikmeter Gas
jährlich in die Türkei gepumpt werden können. „Die EU“, so Miller, „se…
sich künftig dann dem neuen mächtigen Transitland Türkei gegenüber.“ Das
werde die Türkei in die Lage versetzen, der EU gegenüber massiver auftreten
zu können.
## Ausgrenzung als gemeinsames Gefühl
Zusätzlich wollen Putin und Erdogan den Warenaustausch zwischen beiden
Länder verfünffachen, und der mächtigste türkische Industriekonzern Koc
kündigte an, man werde im kommenden Jahr den Bau einer großen Lkw-Fabrik in
Russland beginnen.
Es geht also um den Beginn einer strategischen Partnerschaft zwischen zwei
Ländern, die zwar in einigen Bereichen noch große Konflikte haben, die aber
dennoch ein Grundgefühl eint: von der EU, von Europa ausgegrenzt und
schlecht behandelt zu werden.
Die Geschichte der Annäherung zwischen Russland und der Türkei passt in die
Diskussionen anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns des Ersten
Weltkriegs. Denn was jetzt passiert, führt in die Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg zurück. Jahrhundertelang war Europa mit dem russischen Zarenreich
im Nordosten und dem Osmanischen Reich im Südosten mit zwei autokratischen,
tendenziell reformunfähigen Militärmächten konfrontiert, die wie Russland
in Polen und das Osmanisch Reich auf dem Balkan europäisches Kerngebiet
erobert hatten und deren Ambitionen und Probleme mit zum Ersten Weltkrieg
führten.
## Zurück in die Betonzeit
Im Moment hat man den Eindruck, als säße man in einer Zeitmaschine.
Russland fällt habituell und ökonomisch auf das Zarenreich zurück, und die
einstmals säkulare, nach Westen ausgerichtete Türkei ist mit Macht dabei,
ideologisch und außenpolitisch eine Rolle rückwärts zu den vermeintlichen
glorreichen Zeiten des Osmanischen Reiches zu machen. Die Entwicklungen in
Russland wie in der Türkei können ein enormes aggressives Potenzial
entwickeln, das dem übrigen Europa große Schwierigkeiten bescheren kann,
zumal wenn die beiden Länder sich zusammentun.
Dass es so weit gekommen ist, hat sowohl in Russland wie in der Türkei
innenpolitische Gründe, aber eben nicht nur. Es ist auch ein Ergebnis einer
sträflich ignoranten Politik Europas gegenüber der Türkei und einer genauso
sträflich ignoranten und teils triumphalistischen Politik des Westens
gegenüber Russland nach 1989. Wer heute die aggressive Politik Putins und
Erdogans beklagt, darf über die Vorgeschichte nicht schweigen. Es gab in
den neunziger und den beginnenden nuller Jahren für Europa sowohl gegenüber
Russland wie auch gegenüber der Türkei ein „window of opportunity“, das
nicht genutzt wurde.
## Erdogan wollte in die EU
Die auf den Trümmern des Osmanischen Reichs gegründete Türkische Republik
war von Beginn an der Versuch, Teil der „westlichen Zivilisation“ zu
werden, wie Gründungspräsident Mustafa Kemal (Atatürk) es ganz offen
formuliert hat. Auch wenn es jahrzehntelang nicht gelang, diesen Anspruch
einzulösen, spätestens seit Mitte der achtziger Jahre waren alle türkischen
Regierungen bis zu den Anfangsjahren von Erdogan ernsthaft bereit, das Land
mit allen Konsequenzen in die EU zu führen.
Sie sind gescheitert an einer kulturalistischen, arroganten Debatte, die
kein anderes Ziel hatte, als der türkischen Bevölkerung klarzumachen, dass
sie eben nicht Teil der „westlichen Zivilisation“ sind. Das Ergebnis ist,
dass Erdogan die Türkei nun mit großer Emphase und aggressiven Sprüchen
gegen den Westen zum tragenden Bestandteil der „östlichen, muslimischen
Zivilisation“ erklärt.
Mit Russland lief es nicht viel anders. Erst ließ man zu, dass das Land
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Raubtierkapitalismus gefleddert
wurde, später speiste man Putin, der in seinen ersten Amtszeiten ja
durchaus auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen setzte, mit einigen
Scheininstitutionen wie dem Russland-Nato-Rat ab. Eine neue Friedensordnung
mit Russland konnte so nicht entstehen.
Dieses Geschichtsfenster zum Ausgleich jahrhundertealter Gegensätze
zwischen dem westlichen Europa einschließlich Deutschlands auf der einen
und Russland und der Türkei auf der anderen Seite scheint sich jetzt wieder
zu schließen. Viele Leute in Deutschland spüren das und sind unglücklich
darüber. Die ersten Verlierer sind die Menschen in Russland und der Türkei,
die auf eine Demokratisierung im Innern durch eine enge Anbindung an Europa
gehofft hatten. Wird aus dem verpassten Ausgleich eine dauerhafte
Konfrontation, werden auch alle anderen EuropäerInnen dafür zahlen.
14 Dec 2014
## LINKS
[1] /Kommentar-South-Stream-Leitung/!150561/
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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