# taz.de -- Konflikt um türkische Schulen: Korankonforme Geografie | |
> Immer mehr türkische Gymnasien werden in muslimische Paukschulen | |
> umgewandelt. Dort wird Präsident Erdogans „neue religiöse Generation“ | |
> erzogen. | |
Bild: Säkulare Lehrer stoßen bei Protesten in Ankara mit der Polizei zusammen | |
ISTANBUL taz | Stellen Sie sich vor, ihr Kind kommt aus den Sommerferien – | |
und findet eine völlig veränderte Schule vor. Das passiert in der Türkei in | |
diesem Herbst andauernd: Ohne dass Schüler, Eltern oder Lehrer vorab | |
informiert werden, wandelt die Schulbehörde vormals normale staatliche | |
Schulen in Fachgymnasien für die Ausbildung zum Vorbeter und Prediger | |
(„Imam“) um. | |
Auf sogenannten Imam-Hatip-Schulen macht der Koranunterricht den | |
Schwerpunkt der Ausbildung aus, die anderen Fächer müssen sich anpassen. Wo | |
bisher Naturwissenschaften oder Fremdsprachen im Mittelpunkt standen, dreht | |
sich nun alles um Religion. Dabei werden Mädchen und Jungen getrennt | |
unterrichtet, für Erstere ist das Kopftuch quasi obligatorisch. | |
Hatice A. ist Lehrerin für Geografie und ihr ist genau das passiert: Sie | |
kam aus den Sommerferien zurück und ihr bis dahin auf | |
naturwissenschaftliche Fächer spezialisiertes „Lise“, wie die Gymnasien in | |
der Türkei heißen, war in eine Imam-Hatip-Schule umgewandelt worden. Hatice | |
A. heißt eigentlich anders. Ihren wahren Namen möchte sie genauso wenig in | |
der Zeitung lesen wie den der Schule, um die es geht, denn die Lehrerin hat | |
Angst um ihren Job. | |
„Als ich zurückkam, hatte die Schule einen neuen Rektor und es gab etliche | |
neue Kollegen, die schon an anderen Imam-Hatip-Schulen unterrichtet hatten, | |
dazu Kolleginnen mit Kopftuch. Für uns alte Lehrer, aber auch für die | |
meisten Schüler war das ein Schock. Von einem Tag auf den anderen war alles | |
anders.“ | |
## „Kompletter Unsinn“ | |
Hatice A. berichtet, dass sich die Atmosphäre an ihrer Schule dramatisch | |
veränderte. „Wir, die alten Lehrerinnen und Lehrer, standen ab sofort unter | |
Dauerbeobachtung. Unser Unterricht wurde kritisiert und unsere Kleidung. | |
Ich durfte in Geografie nicht mehr über die Urknalltheorie sprechen. Die | |
Entstehungsgeschichte der Erde musste nun korankonform sein.“ | |
Die Regierung behauptet, der Grund für die Umwandlung in Imam-Hatip-Schulen | |
sei die große Nachfrage in der Bevölkerung. „Das ist kompletter Unsinn“, | |
meint Hatice A. „Die allermeisten Schüler waren völlig entsetzt. Viele | |
verließen die Schule, so schnell sie konnten. Stattdessen wurden Kinder aus | |
Familien, die der regierenden AKP, der Partei für Gerechtigkeit und | |
Aufschwung von Recep Tayyip Erdogan nahe stehen, per Bus zu unserer Schule | |
gekarrt.“ | |
Was Hatice A. beschreibt, sind die Auswirkungen einer Politik, die das Ziel | |
hat, die säkulare Republik Türkei mittelfristig in einen muslimischen, | |
religiösen Staat umzuwandeln. „Ich will, dass an unseren Schulen eine neue | |
religiöse Generation erzogen wird“, hatte Erdogan, damals Ministerpräsident | |
und heute Präsident des Landes, schon im Februar 2012 als Ziel vorgegeben. | |
Diesem Ziel ist er mittlerweile ziemlich nahe gekommen. | |
Mittel zum Zweck sind dabei die Imam-Hatip-Schulen, ursprünglich | |
Berufsschulen für Imame, die in der Türkei allesamt Angestellte des Staates | |
sind. In den 80er und 90er Jahren aber nutzten sie viele | |
konservativ-religiöse Familien, um ihre Kinder nicht auf säkulare Schulen | |
schicken zu müssen. So entstand ein Überangebot an | |
Imam-Hatip-Schulen-Absolventen, darunter auch viele Mädchen, die natürlich | |
nicht alle Vorbeter und Prediger werden konnten. | |
Als die AKP 2002 an die Regierung kam, wertete sie deshalb innerhalb kurzer | |
Zeit die Imam-Hatip-Schulen auf und erlaubte den Absolventen den Zugang zur | |
Universität – gleichberechtigt mit normalen Abgängern staatlicher | |
Gymnasien. Damit wurde aus den Berufsschulen für Vorbeter und Prediger ein | |
konkurrierender Oberstufenzweig, in dem immer mehr Jugendliche eine | |
religiöse Erziehung genossen. | |
## Massenhafte Umwandlung der Schulen | |
Zehn Jahre später, 2012, setzte die zweite Regierung Erdogan dann zu einem | |
entscheidenden Schritt an, um die religiöse Erziehung noch viel breiter zu | |
verankern. Bis dahin war in der Türkei der Besuch einer staatlichen Schule | |
für alle Kinder bis zur achten Klasse obligatorisch. Erst danach konnten | |
Schülerinnen und Schüler zwischen säkulären Gymnasien und religiösen | |
Imam-Hatip-Schulen wählen. | |
Seit 2012 sind nur noch die ersten vier Grundschuljahre | |
allgemeinverbindlich, ab der 5. Klasse darf zur Mittelschule gewechselt | |
werden. Seitdem werden massenhaft normale Schulen in Imam-Hatip-Schulen | |
umgewandelt und immer häufiger stehen Schüler und Lehrer zu Beginn des | |
neuen Schuljahres vor einer anderen Schule als der, die sie zu Ferienbeginn | |
verlassen hatten. | |
Nach Angaben der regierungskritischen Lehrergewerkschaft Egitim-Sen sind | |
seit der Einführung des neuen Systems 2012 insgesamt rund 1.670 säkulare | |
staatliche Mittelschulen in Imam-Hatip-Schulen umgewandelt worden. Bei den | |
Gymnasien waren es 1.477, die von „normalen“ Gymnasien zu Berufsschulen für | |
Vorbeter wurden. Als die AKP 2002 an die Regierung kam, besuchten 71.000 | |
SchülerInnen eine Imam-Hatip-Schule, in diesem Jahr sind es 474.196 – das | |
Sechseinhalbfache. | |
Doch damit gibt sich die AKP-Regierung noch längst nicht zufrieden. Vor | |
wenigen Tagen beschloss der einmal im Jahr tagende nationale Erziehungsrat, | |
dem Bildungsministerium zu empfehlen, Religionsunterricht zukünftig bereits | |
ab der ersten Klasse verpflichtend zu machen. Immerhin wurde eine | |
obligatorische religiöse Unterweisung im Kindergarten mit knapper Mehrheit | |
abgewiesen. | |
## Sprache der Vorväter | |
Dafür soll in den Gymnasien und Imam-Hatip-Schulen ab dem kommenden | |
Schuljahr „Osmanisch“ als Sprache angeboten werden – „damit unsere Kind… | |
wieder lesen können, was auf den Grabstelen ihrer Großväter steht“, wie der | |
heutige türkische Präsident Erdogan sagte. Der Bildungsminister begrüßte | |
diesen Schritt genauso ausdrücklich wie den obligatorischen | |
Religionsunterrichts. | |
Osmanisch war im Osmanischen Reich (1299–1923), dem Vorgängerstaat der | |
modernen Türkei, die Sprache der gesellschaftlichen Elite. Es besteht aus | |
einem Gemisch aus Türkisch, Persisch und Arabisch und wird mit arabischen | |
Buchstaben geschrieben. Nach Gründung der Türkischen Republik 1923 wurden | |
diese durch lateinische Buchstaben ersetzt und die Sprache wurde | |
„türkisiert“, also viele arabische und persische Worte durch türkische | |
abgelöst. Nun soll, passend zur ideologischen Rückbesinnung auf die | |
Osmanen, auch die Sprache der großen Vorväter wieder gelehrt werden. | |
Hatice A. ist es mittlerweile gelungen, sich wieder an ein normales | |
Gymnasium versetzen zu lassen. So glücklich sie darüber ist – für die | |
Zukunft sieht sie schwarz. „Ich habe keine Hoffnung mehr auf eine | |
wissenschaftlich orientierte Schulbildung in der Türkei. Es wir nur noch | |
ein paar Jahre dauern, dann hat Erdogan auch die normalen Gymnasien in | |
religiöse Paukschulen umgewandelt.“ | |
25 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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