# taz.de -- Gewalt gegen Frauen in der Türkei: „Die Wut ist explodiert“ | |
> In der Türkei tötet ein Busfahrer eine Passagierin. Ein Aufschrei der | |
> Frauen geht durchs Land – ihre Wut richtet sich gegen die Politik der | |
> Männer. | |
Bild: Protest gegen die brutale Ermordung der Studentin Özgecan Aslan | |
ISTANBUL taz | „Es ist, als ob jemand einen Schalter umgelegt hat“, | |
erklärte gestern eine Freundin die Situation. „Jahrelang wird über immer | |
mehr Morde und Vergewaltigungen an Frauen berichtet und kaum etwas bewegt | |
sich. Doch plötzlich ist das ganze Land im Aufruhr.“ | |
„Die Wut ist explodiert“, titelte dann auch gestern die linkskemalistische | |
Oppositionszeitung Cumhuriyet, „der Mord an der 20-jährigen Studentin | |
Özgecan Aslan hat das Fass zum Überlaufen gebracht“. | |
Am Freitagabend hatte die Polizei an der türkischen Südküste bei Mersin die | |
halbverbrannte Leiche von Özgecan Aslan gefunden. Ihre Hände waren | |
abgehackt, der Torso verstümmelt und halb verbrannt. Nur wenig später | |
wurden der Täter und seine beiden Komplizen gefasst. Ein Minibusfahrer, | |
dessen Foto heute in sämtlichen großen Zeitungen zu sehen ist, hatte | |
versucht, Özgecan in seinem Bus zu vergewaltigen. | |
Als sie sich zur Wehr setzte, stach er mit einem Messer auf sie ein. | |
Anschließend fuhr er mit der schwer verletzten Frau im Wagen nach Hause, | |
holte seinen Vater und seinen Cousin zur Hilfe, um mit ihnen gemeinsam die | |
Studentin endgültig zu ermorden und anschließend die Leiche zu entsorgen. | |
Bereits am Samstagmittag gab es die ersten wütenden Protestdemonstrationen | |
von Frauen in Mersin und Istanbul. Bis zum Abend hatten die Proteste sich | |
auf das ganze Land ausgeweitet. Die Massen schrien ihre Wut hinaus, eine | |
junge Frau mit Kopftuch im stockkonservativen Kayseri berichtete auf einer | |
Demo mit tränenerstickter Stimme vor laufenden Kameras, wie sie selbst | |
vergewaltigt worden war. | |
In wenigen Stunden hatten Frauen einen Hashtag #sendeanlat („erzähl du | |
auch“) eingerichtet, wo binnen Stunden Tausende Frauen darüber berichteten, | |
wie sie begrapscht, belästigt oder vergewaltigt worden sind. Die angestaute | |
Wut endlädt sich in einem öffentlichen Aufschrei, wie es ihn in der Form in | |
der Türkei wohl noch nie gegeben hat. Bei der Beerdigung am Sonntag | |
verhinderten die Frauen gegen den Protest des Imam, dass ein Mann den Sarg | |
anfasste. | |
## Islamische Regierung ist schuld | |
Die Wut richtet sich vor allem auf die islamische Regierung von Präsident | |
Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Völlig zu Recht | |
machen die Frauen die Regierung dafür verantwortlich, dass die Gewalt gegen | |
Frauen immer mehr zunimmt. | |
„Diejenigen, die Strafen bei Gewalt gegen Frauen reduzieren“, diejenigen | |
die Fatwas verhängen, „was Frauen alles nicht tun dürfen“, „diejenigen,… | |
den Frauen das Lachen verbieten wollen und den Sexismus zur offiziellen | |
Ideologie des Landes erklären“, das sind die wahren Schuldigen an der | |
Gewalt gegen Frauen, schrieb die wütende Kolumnistin Melis Alphan gestern | |
in Hürriyet. Diese Islamo-Machos müssen endlich weg, ist dann auch der | |
Tenor in den sozialen Netzwerken. | |
Davutoglu und Erdogan haben die Gefahr erkannt und bekommen Angst. In einer | |
verlogenen Rede am Sonntag rief Davutoglu in gewohnt patriarchalischem Ton: | |
„Wir werden unsere Frauen schützen, lasst uns hier und jetzt eine Kampagne | |
gegen Gewalt gegen Frauen starten“, und versuchte sich so, an die Spitze | |
der Protestbewegung zu setzen. | |
## Ruf nach Todesstrafe | |
Familienministerin Aysenur Islam forderte die Wiedereinführung der | |
Todesstrafe für Frauenmörder, und Erdogan schickte gleich seine beiden | |
Töchter zu einem Kondolenzbesuch zur Mutter der ermordeten Özgecan. Doch | |
das wird ihnen wenig nutzen. | |
Seit die AKP regiert, wurden Frauen immer weiter an den Rand der | |
Gesellschaft gedrängt. Erdogan erklärt öffentlich, Männer und Frauen | |
könnten gar nicht gleichberechtigt sein, Frauen hätten sich um Kinder und | |
Haushalt zu kümmern. Die Beschäftigungsrate von Frauen geht kontinuierlich | |
zurück und entsprechend wächst ihre Abhängigkeit von Männern. | |
Doch die Frauen haben genug und schweigen nicht länger. Gestern Abend | |
fanden erneut im ganzen Land Trauerdemonstrationen statt. Auch viele Männer | |
waren dabei. | |
17 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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