Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gentrifizierung in Istanbul: Raus mit allen Underdogs
> In Istanbul muss das Stadtviertel Tarlabasi den Entwicklungsvisionen der
> AKP weichen. Darunter leiden besonders die kurdischen Bewohner.
Bild: Blick vom Golden Horn auf den Galataturm in Beyoglu.
„Für uns hier ist es eine Katastrophe.“ Traurig sitzt Ahmet vor seinem
Gemüseladen und schaut auf die Ruinen direkt auf der anderen Straßenseite.
Dort sieht es aus wie nach einem Bombenangriff. Häuser mit Brandspuren, wo
einmal Türen und Fenster waren, gähnen nun schwarze Löcher dem Betrachter
entgegen. Ahmet sagt: „Wenn sie mit dem Teil direkt vor uns fertig sind,
werden sie mit unseren Häusern weitermachen.“
Der Gemüseladen von Ahmet steht mitten in Istanbuls derzeitig größtem
innerstädtischen Sanierungsgebiet Tarlabasi. Das Viertel liegt unterhalb
des zentralen Taksim-Platzes und ist von dem beliebtesten Kultur- und
Amüsierbezirk der Metropole nur durch eine vierspurige Autoschneise
abgetrennt.
Tarlabasi ist ein armes Viertel. Die Gassen führen vom hippen Beyoglu aus
steil den Hang hinunter, viele Häuser sind marode, an manchen Ecken fühlt
man sich in ein anatolisches Dorf versetzt, vor allem wenn auch noch einige
Schafe durch die Gassen getrieben werden.
In vielen Kellern hausen Müllsammler und ihre Familien, die hier den
tagsüber eingesammelten Müll in die Bestandteile trennen, die sich an
Großhändler weiterverkaufen lassen. Nur wenn man genauer hinschaut, sieht
man etlichen Häusern an, dass sie schon einmal bessere Zeiten gesehen
haben. Noch vor 50 Jahren lebten hier überwiegend Griechen und Armenier, an
sie erinnern heute nur noch etliche kleine Kirchen im Viertel.
## Stricher, Transvestiten, Flüchtlinge
Der zuständige Bezirksbürgermeister von Beyoglu, Misbah Demircan, will das
heruntergekommene Tarlabasi wieder in einen „sicheren, lebens- und
liebenswerten“ Stadtteil verwandeln, was man ja von dem gegenwärtigen
Zustand nicht sagen könne. Tatsächlich ist Tarlabasi seit Jahrzehnten der
Unterschlupf für Underdogs, die Kehrseite der glitzernden Fassade der
Amüsiermeile, wo Kellner leben, aber auch Stricher und Transvestiten
untergetaucht sind und illegale Flüchtlinge eine Bleibe gefunden haben.
Die Mehrzahl der Bewohner sind heute aber Kurden. Nach der Vertreibung der
Griechen in den 50er Jahren sind sie nach und nach aus dem Südosten des
Landes nach Istanbul eingewandert, in den verfallenden Häusern von
Tarlabasi haben sie bezahlbare Unterkünfte gefunden. Einer von ihnen ist
der Gemüsehändler Ahmet, der vor 25 Jahren nach Istanbul kam.
„Alle, die hier ringsherum wohnen, sind Kurden“, erzählt er. Und er
fürchtet: „Wir alle sollen vertrieben werden.“ Diese Furcht ist nicht
unbegründet, denn wenn das „Restaurationsprojekt Tarlabasi“ in einigen
Jahren vollendet ist, wird der Bezirk nicht mehr wiederzuerkennen sein.
Angesichts der dann vorherrschenden Immobilienpreise werden die Bewohner
sich gänzlich verändert haben.
In einem ersten Schritt wird ein Gebiet von gut 30.000 Quadratmetern, auf
dem knapp 300 Häuser stehen, nahezu gänzlich abgerissen und dann wieder neu
aufgebaut. Der Bezirk ist stolz darauf, dass dieses gigantische Abriss- und
Erneuerungsprojekt das erste Mal in der Türkei in einer Kooperation
zwischen der öffentlichen Hand und Privatinvestoren durchgeführt wird.
## Mit Enteignung gedroht
Für die meisten Bewohner dagegen ist es ein Trauma. Nachdem der Bezirk 2007
seine Pläne zur Umwandlung von Tarlabasi präsentiert hatte, gründeten sie
im Februar 2008 einen Solidaritätsverein und versuchten, ihre Interessen in
dem gesamten Projekt einzubringen. „Doch der Bezirk“, sagt Ahmet Gün, der
Sprecher der BI, „hatte überhaupt kein Interesse an uns.“ Und er erzählt
weiter: „Wir sind nicht gegen eine Sanierung, die meisten Häuser müssen
dringend saniert werden. Doch die wollen uns hier nicht mehr haben. Wir
sollten unsere Häuser und Wohnungen zu einem vom Bezirk geschätzten sehr
niedrigen Verkehrswert an den Baukonzern verkaufen, sonst wurde uns mit
Enteignung gedroht.“
Rechtsgrundlage für diese Art der Stadtsanierung ist ein Gesetz, das
offiziell dem „Ensembleschutz“ dienen soll und dem Staat die Möglichkeit
gibt, Eigentümer zu enteignen, wenn sie sich dem Gemeinschaftsinteresse
verweigern. Klagen gegen das Gesetz waren bislang wenig erfolgreich, eine
Gruppe aus Tarlabasi hat deshalb sogar den Menschenrechtsgerichtshof in
Straßburg angerufen.
In Tarlabasi hat der Bezirk aber längst die Kontrolle an einen privaten
Großinvestor abgegeben. Das Regiment führt die Calik-Holding, ein
Unternehmenskonglomerat, das in der Ära der AKP-Regierung groß geworden ist
und in dem nicht ganz zufällig der Schwiegersohn von Ministerpräsident
Tayyip Erdogan im Vorstand sitzt. Planung und Durchführung des Projekts
obliegt der GAP Insaat, einem großen Bauunternehmen, das zur Calik-Holding
gehört und der das Projekt ohne Ausschreibung übertragen wurde.
## Vom Staat alleingelassen
Der Architekt Korhan Gümüs, Aktivist der Plattform „Für menschliche
Siedlungen“, hat deshalb auch Zweifel an der rechtlichen Legitimität des
Projekts: „Die Menschen in Tarlabasi wurden zu Unterschriften genötigt,
ohne dass sie überblicken konnten, was genau auf sie zukam. Der Staat hat
sie völlig allein gelassen. Eine solche Stadtumwandlung wie in Tarlabasi
kann man aber nicht dem Privatsektor überlassen. Das muss in einem
demokratischen Prozess entstehen, in den die Bewohner mit eingeschlossen
sind.“
Aber dazu ist das Projekt kommerziell wohl zu lukrativ, es besteht die
begründete Erwartung, dass die Häuser und Wohnungen in Tarlabasi sich
angesichts des Immobilienbooms in Istanbul nach ihrer Fertigstellung für
ein Vielfaches von dem werden verkaufen lassen, was Bauunternehmen und
Bezirk investieren. GAP-Insaat hat die Besitzer von 269 Häusern dazu
gebracht, ihre Immobilien zu einem sehr moderaten Preis an den Konzern
abzutreten oder aber sich selbst an dem Projekt zu beteiligen. Rund 45
Prozent des Bestandes gehört nun GAP-Insaat, 50 Prozent sind weiterhin im
Privatbesitz und 5 Prozent gehen an den Bezirk.
Die kommerziell lukrativsten Grundstücke hat der Baukonzern sich jedoch zu
seiner eigenen Verfügung gesichert. Dort werden nun Hotels und Gewerberäume
gebaut, an denen die vormaligen Grundstücksbesitzer nicht mehr beteiligt
wurden. Ihnen hat man Wohnraum in den hinteren Blöcken zugewiesen, den die
meisten aber selbst nur benutzen wollen, um ihn später gewinnbringend zu
verkaufen. „Von den Familien, die bislang hier gewohnt haben, werden nicht
mehr als 20 übrig bleiben“, schätzt BI-Sprecher Ahmet Gün. Für die
vormaligen armen Mieter oder gar Hausbesetzer wird es in Zukunft in
Tarlabasi kaum mehr Raum mehr geben.
## Verbannung aus dem Stadtzentrum
Denn wie der kurdische Gemüsehändler Ahmet sind die meisten Bewohner des
Stadtteils davon überzeugt, dass das Projekt der Calik-Holding nur der
Anfang ist und die Gentrifizierung des gesamten Kiezes schnell weitergehen
wird. Sei es durch weitere Großprojekte oder durch private Spekulation.
Schon jetzt sind die Häuserpreise in ganz Tarlabasi enorm in die Höhe
geschnellt. Der gewollte Nebeneffekt der Flächensanierung in Tarlabasi wird
es sein, die dort jetzt lebenden Bewohner aus dem Stadtzentrum zu
verbannen.
Der Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer, Eyüp Muhcu, beklagt aber
auch die architektonische Verwandlung des Bezirks. „Die Struktur wird
völlig verändert“, sagte er in einem Interview. „Die Bausubstanz aus dem
19. Jahrhundert wird abgerissen und es wird neu gebaut, statt zu
restaurieren.“ Tatsächlich sieht die jetzige Planung vor, dass die
Geschosszahl pro Grundstück erhöht wird und die Häuser zukünftig
Tiefgaragen haben sollen, über die man den Innenhof der neu gebauten Blocks
erreicht. Die alten Fassaden sollen nur noch teilweise wieder aufgebaut
werden, als Fake.
Das Sanierungsprojekt in Tarlabasi ist derzeit zwar das größte
Erneuerungsprojekt im Zentrum von Istanbul, aber bei weitem nicht das
einzige. In der Altstadt wurde erst vor wenigen Jahren ein tausend Jahre
altes Roma-Viertel abgerissen und entlang des Goldenen Horns sind ebenfalls
Projekte für gehobenes Wohnen am Wasser in Planung, die Tausende der
jetzigen Bewohner vertreiben werden.
Der Modernisierung der Metropole fallen nicht nur viele ihrer derzeitigen
Bewohner zum Opfer, die Kommerzialisierung der Stadt geht auch auf Kosten
der historischen Substanz. Großinvestoren, die derzeit Istanbul entdeckt
haben, drängen auf großflächige Projekte, die schnelle Rendite bieten. Die
Unesco hat bereits mehrfach damit gedroht, der Altstadt von Istanbul den
Titel des „Weltkulturerbes“ abzuerkennen, wenn die Verantwortlichen nicht
behutsamer mit dem historischen Erbe umgehen.
11 Jun 2012
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Türkei
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aus Le Monde diplomatique: Roma – Spielball im Staate Erdogan
Der Präsident nutzt die Roma, um die EU zu besänftigen. Doch sie werden als
Diebe, Drogenhändler, Gewalttäter diskriminiert.
Archäologie in der Türkei: Tourismus und Nationalstolz
Die Türkei will stärkeren kommerziellen Nutzen aus ihren antiken Stätten
ziehen. Ausländischen Archäologen werden jedoch die Grabungslizenzen
verweigert.
Wirtschaftsstandort Türkei: Eine Investition wert
Geringe Arbeitskosten, hohe Investitionssicherheit, günstige
geostrategische Lage: Deutsche Unternehmer schwärmen für die Türkei.
Gentrifizierung: Buch zu für Wohlers
Weil die Miete eines Buchhändlers um 200 Prozent erhöht wurde, protestieren
rund 400 Menschen in St. Georg.
Was passiert in Neukölln?: "Gentrifizierer in jedem 4. Haushalt"
Ein hoher MigrantInnenanteil bremst Verdrängungsprozesse. Das zeigt Olivia
Rebers Studie über den Neuköllner Reuterkiez. Sie kritisiert, dass in dem
Bezirk soziale Stadtpolitik stark vernachlässigt wurde
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.