| # taz.de -- Was passiert in Neukölln?: "Gentrifizierer in jedem 4. Haushalt" | |
| > Ein hoher MigrantInnenanteil bremst Verdrängungsprozesse. Das zeigt | |
| > Olivia Rebers Studie über den Neuköllner Reuterkiez. Sie kritisiert, dass | |
| > in dem Bezirk soziale Stadtpolitik stark vernachlässigt wurde | |
| Bild: Frisch sanierte Altbauten erfreuen nicht jeden... | |
| taz: Frau Reber, eine Studie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung | |
| sagt: In Neukölln gibt es keine Gentrifizierung. Sehen Sie das auch so? | |
| Olivia Reber: Das ist natürlich eine Definitionsfrage. Die Autoren der | |
| Studie beharren darauf, dass es in Neukölln „noch“ keine Gentrifizierung | |
| gebe, weil noch keine wirklich wohlhabenden Mieter in die Gegend ziehen. | |
| Stattdessen würden nur arme durch weniger arme Haushalte ersetzt. Begreift | |
| man Gentrifizierung nicht als ein Ergebnis, sondern als Prozess, der in | |
| verschiedenen Phasen verläuft, sieht das anders aus. Meine Untersuchungen | |
| haben gezeigt: Der Reuterkiez befindet sich in einem | |
| Gentrifizierungsprozess. | |
| Auch wenn dort immer noch größtenteils dieselben Menschen wohnen? | |
| Ja. Im Reuterkiez hat noch kein Austausch der Bevölkerung stattgefunden. | |
| Aber das heißt ja nur: Das Ende des Prozesses ist noch nicht erreicht. Der | |
| Prozess findet durchaus statt. Auch in der Studie steht ja, dass um den | |
| Reuterplatz in jedem vierten Haushalt sogenannte gentrifier leben, also | |
| Menschen aus sozialen Schichten, die bisher wenig im Kiez vertreten waren | |
| und das Potenzial haben, diesen zu verändern. | |
| Welche Rolle spielt der hohe MigrantInnenanteil für die Gentrifizierung von | |
| Neukölln? | |
| Er bremst sie. Gerade im Reuterkiez gibt es einen sehr hohen | |
| MigrantInnenanteil an den BewohnerInnen. Sie haben sich eine migrantische | |
| Infrastruktur aufgebaut, die sehr schwer aufzubrechen ist. Eine | |
| Gentrifizierung im Sinne eines Bevölkerungsaustauschs wird da länger | |
| dauern. Auch dadurch, dass die Struktur der Hauseigentümer sehr durch | |
| Kleineigentümer – auch migrantische – geprägt ist und weniger durch | |
| Immobiliengesellschaften. | |
| Neukölln galt in den Medien ja lange Zeit als Ghetto. Das ist vorbei. | |
| Das mediale Bild von Neukölln hat sich regional wie überregional stark | |
| verändert. Gerade der Reuterkiez wird als Szenebezirk beschrieben. 1997 | |
| schrieb der Spiegel über das „Ghetto Neukölln“. Jetzt werden dagegen ganz | |
| rosige, blumige Bezeichnungen verwendet. | |
| Das ist doch eigentlich gut, auch für die Bewohner. | |
| Ja, prinzipiell schon. Aber wenn der Prozess so weiterläuft, wenn von der | |
| Politik nicht eingegriffen wird, werden die Bewohner die Leidtragenden | |
| sein. Zurzeit steigen nur die Mieten bei Neuvermietung. Aber es wird nicht | |
| lange dauern, bis auch die Bestandsmieten steigen. Gut möglich, dass sich | |
| schon in 2, 3 Jahren viele die Gegend nicht mehr leisten können. Das ist | |
| aber kein automatischer Prozess: Den könnte man etwa durch Mietobergrenzen | |
| politisch regulieren. | |
| Sie haben in Ihrer Arbeit festgestellt, dass das Gegenteil passiert: Die | |
| Stadtpolitik heizt diesen Prozess eher an. | |
| In Neukölln wurde soziale Stadtpolitik, die die Wohn- und Lebensbedingungen | |
| der Bewohner verbessern soll, vernachlässigt – und stattdessen eine Politik | |
| der Imageaufwertung betrieben. Sanierungsgebiete oder Investitionen | |
| vonseiten der Stadt gibt es ja schon lange kaum mehr. Was es noch gibt, ist | |
| das Quartiersmanagement. Und das hat in Neukölln vor allem massiv | |
| Kulturförderung betrieben. Im Reuterkiez gab es zum Beispiel die | |
| Zwischennutzungsagentur. Die hat günstig Gewerbeeinheiten an Künstler | |
| vermittelt. Das ist natürlich eine gezielte Strategie, Kreative ins Viertel | |
| zu holen, um eine Pionierphase auszulösen. Die soll dann gentrifier mit | |
| hohem Einkommen anziehen. Die Pioniere selbst bringen dem Bezirk ja nichts, | |
| weil sie kaum Steuereinnahmen generieren. | |
| In der Studie der Senatsverwaltung heißt es, gerade solche Pioniere hätten | |
| es eher schwer, nach Neukölln zu ziehen. Wie das? | |
| Das kann schon sein – mittlerweile. Seit 2009 sind die Angebotsmieten stark | |
| gestiegen: um mehr als 16 Prozent. Das ist ein heftiger Anstieg. Und | |
| dadurch fällt es Pionieren – Studenten oder Künstlern – jetzt schwerer, in | |
| das Gebiet zu ziehen, eben weil sie kein hohes Einkommen haben. Daraus kann | |
| man natürlich folgern, dass keine Gentrifizierung stattfindet. Oder dass | |
| sie schon ins nächste Stadium übergeht. | |
| 26 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Moritz Wichmann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin | |
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