# taz.de -- Interview zur Neuköllner Kunstszene: "Soziale Spaltung droht nicht… | |
> Die Kunstszene in Neukölln beflügelt Neugierde und Kontakte im Bezirk, | |
> sagt die frühere Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland. | |
Bild: "Neukölln kann nicht groß mit Sehenswürdigkeiten angeben." | |
taz: Frau Kolland, wir sitzen hier in Ihrer Wohnung in Charlottenburg. Vor | |
Ihrer Tür reihen sich Apotheken an gediegene Modeläden. Warum leben Sie, | |
die beruflich so innig mit Neukölln verbandelt war, ausgerechnet hier? | |
Dorothea Kolland: Ich zog 1971 her, als ich zum Studieren nach Berlin kam. | |
Zehn Jahre, bevor ich im Kulturamt von Neukölln anfing. Meine Kinder | |
wuchsen hier auf, sie waren mit Leib und Seele Charlottenburger. Eins davon | |
lebt mittlerweile in Neukölln. | |
Ein Umzug kam nie in Frage? | |
Nur einmal stand ein Umzug nach Neukölln zur Debatte. Wir schauten uns in | |
der Schillerpromenade eine Wohnung an, mein damals 14-jähriger Sohn kam mit | |
dem Fahrrad zum Besichtigungstermin. Vor dem Haus ist er von arabischen | |
Jugendlichen angegriffen worden. Und da war für ihn klar, er will | |
keinesfalls nach Neukölln. Damit war das Thema durch. | |
Der Spiegel nannte Neukölln 2004 „Bronx von Berlin“. | |
Das war schon damals weit übertrieben. Zu 70 Prozent basierte das auf | |
grauenhaften Vorurteilen. Als der Spiegel seine Geschichte schrieb, | |
forschte gerade eine FU-Dozentin zur Außenwirkung von Neukölln. Wie nehmen | |
Neuköllner ihren Bezirk war und wie die restlichen Berliner? Da gab es | |
eklatante Unterschiede. | |
Welche? | |
Während die Neuköllner ihre Situation realistisch bewerteten, war die | |
Haltung der anderen Berliner zu Neukölln katastrophal. Die stellten sich | |
vor, dass da Schüsse durch die Nacht knallen und die Straßen in Dreck | |
stehen, dass dort keine Frau nachts allein auf die Straße gehen kann. Ohne | |
dass sie jemals im Bezirk vorbeikamen, wohlgemerkt. | |
Was taten die Neuköllner gegen diese Vorurteile? | |
Nicht viel. Neukölln ist ja auch nicht der Bezirk, der groß mit | |
Sehenswürdigkeiten angeben kann. Die Berliner Stadtrundfahrten machten | |
generell am Hermannplatz kehrt. | |
Wann kippte dieses negative Bild in der öffentlichen Wahrnehmung? Wann | |
wurde Neukölln cool? | |
Schleichend, manifest wurde es vor etwa fünf bis sechs Jahren. Der | |
Hauptanlass für die Medien, auch mal positive Bilder aus Neukölln zu | |
bringen, war das Festival „48 Stunden Neukölln“. | |
Wofür steht das Festival? | |
Für etwas ganz Erstaunliches, das man in Neukölln nie vermutet hatte: für | |
eine lebendige Kunstszene, für Subkultur und herrlich absurde Situationen. | |
Absurde Situationen? | |
Wenn zum Beispiel eine Ausstellung in ehemaligen öffentlichen Toiletten | |
stattfindet. Das Konzept von „48 Stunden“ war von Anfang an, ungewöhnliche | |
Orte für die Kunst zu finden und sie in den Bezirk rauszutragen. Da fanden | |
dann Chorperformances auf Hinterhofbalkonen statt, Friseursalons wurden | |
bespielt, Parkdecks zu Bühnen umfunktioniert. | |
Heute boomt der Bezirk: In der Boddinstraße stolpert man von einer Galerie | |
in die nächste, im Körnerkiez eröffnen Co-Working-Spaces in Künstlerhand, | |
in der Weserstaße drängen sich Kneipen, der Schillerkiez hat eine | |
Jugendkunstschule und nach „48 Stunden“ läuft das Festival „Nacht und | |
Nebel“. | |
Da hat sich so viel getan. Als ich vor 30 Jahren im Kulturamt anfing, | |
wurden im Bezirk um 18 Uhr die Bordsteine hochgeklappt. Es gab vielleicht | |
30 Künstler in Neukölln und ihr Altersdurchschnitt war 60 – wenn nicht | |
höher. Das ist jetzt komplett anders. Es hat einen enormen Zuzug von | |
Künstlern gegeben. | |
Die deutlich jünger sind? | |
Zur ersten Zuzugswelle vor etwa zehn Jahren gehörten Leute zwischen 35 und | |
45, die sich in Atelierhäuser einmieteten oder eigene Ateliers in | |
Gewerbe-Etagen fanden. Es folgten jüngere Künstler aus anderen Bezirken wie | |
Friedrichshain-Kreuzberg oder aus dem unbezahlbar gewordenen Mitte. Heute | |
sind die meisten der jungen Leute, die nach Neukölln strömen, eher | |
Studenten. Hinzu kommen Menschen aus anderen Ländern, vor allem aus | |
Südamerika, Spanien, Italien und Griechenland. Leute um die 30, die daheim | |
keine Arbeit kriegen und ihre Hoffnungen auf Berlin setzen. | |
Im Zuge dieser Entwicklung steigen die Mieten im Bezirk, alte Mieter werden | |
verdrängt. | |
Ich sehe das mit den Mieterhöhungen nicht so rasant wie Sie. Viele Mieten | |
sind noch auf niedrigem Niveau, solange man einen alten Mietvertrag hat. | |
Die Mietsteigerungen sind im Vergleich zum Rest der Stadt zwar erheblich, | |
aber ausgehend von einem ziemlich niedrigen Niveau. Gleichwohl gibt es | |
natürlich Luxussanierungen wie die in der Schillerpromenade. | |
Parallel dazu gibt es den Wegzug von Hartz-IV-Empfängern. Trägt die | |
erstarkte Kulturszene und die damit verbundene Attraktivität Neuköllns | |
letztlich zur Spaltung des Bezirks bei? | |
Viele Neuköllner deutscher und nichtdeutscher Herkunft leben bereits lange | |
Zeit auf dem untersten Existenzlevel, da droht die Abspaltung nicht erst | |
seit Neuestem. Ich sehe eher eine große Möglichkeit, mit Künstlern Brücken | |
zu bauen über die sozialen Gräben hinweg. | |
Haben Sie dafür Beispiele? | |
Nehmen Sie den Körnerkiez: Viele der Läden dort wurden von Künstlern | |
bezogen. Auch Buchbinder, Schmuckmacher und andere Kreative produzieren | |
dort. Noch vor drei Jahren waren zwei von drei Läden dicht, die Rollläden | |
unten. Es sah sehr abweisend aus. Jetzt stehen die Türen offen. Die | |
Nachbarn sind neugierig, kommen zu Besuch und miteinander ins Gespräch. Es | |
ist eine wesentlich weniger zugeknöpfte Situation als hier in | |
Charlottenburg zum Beispiel. Dadurch ergeben sich soziale Kontakte in der | |
Nachbarschaft, die vorher nicht da waren und die von einem Sozialarbeiter | |
nicht so einfach herzustellen sind. | |
Weil das Zusammenkommen ungezwungener abläuft? | |
Man macht nicht mit Ansage das große Projekt Nachbarschaft, man ist einfach | |
Nachbar. Die Künstler haben für die Quartiere sozial etwas geleistet. | |
Stadtpolitisch hat der Senat auf solche Entwicklungen zu reagieren, wenn er | |
nicht die große Sezession zwischen Arm und Reich will. Da muss man darüber | |
nachdenken, wie und ob man für Künstler – nicht nur für die Bildenden –z… | |
Beispiel Arbeitsräume subventioniert. | |
Steht Neukölln die Prenzlauerbergisierung bevor? | |
Das glaube ich nicht. In Prenzlauer Berg haben sich nach der Wende die | |
Besitzverhältnisse komplett verändert. Das ist in Neukölln nicht der Fall. | |
Es wird nicht in dem Maße gehypt und wohlhabend werden. | |
Ist das nicht eine Frage der Zeit? Erst kommen die Leute mit Ideen und dann | |
die mit Geld? | |
Ich glaube nicht, dass sich die Schickeria in Neukölln besonders wohl | |
fühlt. Dort wohnen nach wie vor ganz viele ganz stinknormale Leute. Eher | |
bodenständige Typen. Die Kunst- und Kulturszene im Bezirk ist noch nicht | |
arriviert. Das ist fast alles noch im Kessel des Werdens –und nichts, womit | |
man repräsentieren kann. Bezeichnend dafür ist, dass noch keine renommierte | |
Galerie nach Neukölln gezogen ist, bei der es wirklich um Geld geht. | |
Also geben Sie eine entspannte Prognose für die Entwicklung Neuköllns ab? | |
Das auch nicht. Die jetzige Entwicklung des Bezirks kann kippen – und zwar | |
in Richtung Verelendung –, wenn es nicht gelingt, den neu zugezogenen | |
Neuköllnern attraktive Angebote zum Bleiben zu machen. Dazu gehören in | |
erster Linie gute Schulen für den Nachwuchs. | |
15 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Joanna Itzek | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin | |
Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
taz-Serie Schillerkiez: Was treibt Gentrifizierung?: "Wir Künstler sind auch O… | |
Künstler haben in der Gentrifizierungsdebatte einen schlechten Ruf: | |
"Entdecken" sie ein Viertel, scheinen steigende Mieten die Folge zu sein. | |
Oder ließe sich das verhindern? | |
Krisenländer können von Neukölln lernen: Der Sieg spricht spanisch | |
Spanien versucht gerade, mit der Krise fertig zu werden. Berlin-Neukölln | |
kennt gar keinen anderen Zustand. Was kann das Problemland vom Problemkiez | |
lernen? | |
taz-Serie Schillerkiez: Die Kunstschule: Pioniere der Bürgerlichkeit | |
Seit zwei Jahren bringen junge Akademikereltern ihre Kinder in die | |
Kunstschule Weisestraße. Ein Besuch. | |
Was passiert in Neukölln?: "Gentrifizierer in jedem 4. Haushalt" | |
Ein hoher MigrantInnenanteil bremst Verdrängungsprozesse. Das zeigt Olivia | |
Rebers Studie über den Neuköllner Reuterkiez. Sie kritisiert, dass in dem | |
Bezirk soziale Stadtpolitik stark vernachlässigt wurde |