# taz.de -- Dokudrama über SS-Gefangene: Unterwegs ins Ungewisse | |
> Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich bald zum 70. Mal. „Wir, | |
> Geiseln der SS“ widmet sich der Odyssee von Sonderhäftlingen im April | |
> 1945. | |
Bild: Harry Wings (Tomas Sinclair Spencer, li.) und Jimmy James (Marc Benjamin,… | |
Eine Reise, die womöglich in den Tod führt – das mussten die meisten der | |
rund 140 „Sippen- und Sonderhäftlinge“ befürchtet haben, als sie in den | |
letzten Kriegstagen im KZ Dachau von der SS in Busse verladen werden, um | |
eine Fahrt mit unbekanntem Ziel nach Süden anzutreten. Die Dokumentation | |
„Wir, Geiseln der SS“ der Gebrüder Beetz zeichnet heute Abend auf Arte die | |
dramatischen Geschehnisse im April 1945 noch einmal nach. | |
Der französische Ministerpräsident Léon Blum, der ehemalige österreichische | |
Kanzler und „persönliche Gefangene Adolf Hitlers“, Kurt Schuschnigg, samt | |
Familie, Pfarrer Martin Niemöller, der Kriegsgefangene und | |
Royal-Air-Force-Pilot „Jimmy James“ (dessen zahlreiche Fluchtversuche | |
später in „Gesprengte Ketten“ mit SteveMcQueen verfilmt werden), Angehöri… | |
der Familien Goerdeler und von Stauffenberg – sie sind nur einige der | |
Verschleppten, die von den Nazischergen angesichts der drohenden | |
Kriegsniederlage „auf Transport“ geschickt werden. | |
Das Ziel: die „Alpenfestung“. Während die Gefangenen über ihr Schicksal | |
rätseln, kommen vom Chef des Sicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner | |
klare Vorgaben: Wenn die Gruppe der prominenten Geiseln nicht für | |
Verhandlungen mit den Alliierten genutzt werden kann, soll sie ermordet | |
werden. Und das, obwohl sich unter den Reisenden Kinder befinden. | |
So wie Sibylle-Maria Beckmann. Die Tochter von Wehrmachtspfarrer Johannes | |
Schröder, der aus russischer Kriegsgefangenschaft zum Widerstand gegen die | |
Nationalsozialisten aufrief, ist damals noch nicht einmal fünf Jahre alt. | |
Aber der Leidensweg der Familie Schröder beginnt schon viel früher, im | |
Herbst 1944. Obwohl sie nur „punktuelle Erinnerungen“ hat, sind ihr | |
verschiedene Szenen bis heute unvergesslich: „Ich sehe noch vor mir, wie es | |
an unserer Tür in Neumünster klingelt. Meine Mutter geht zur Tür und vor | |
ihr stehen zwei SS-Männer, die sie auffordern, für meine Brüder und mich | |
sofort zu packen.“ | |
## In „Sippenhaft“ | |
Die Mutter wird in ein Gefängnis verbracht, die beiden Brüder in ein | |
NSDAP-Kinderheim nach Heiligenhafen, das Mädchen in ein Kinderheim nach | |
Segeberg. Zu Weihnachten darf die Familie zwar wieder nach Hause, aber auch | |
das ist nicht von Dauer. Im Januar erscheint erneut die Gestapo und bringt | |
Mutter und Kinder als „Sippenhäftlinge“ ins Konzentrationslager Buchenwald. | |
„Es war grauenhaft, die täglichen morgendlichen Erschießungen, die wir dort | |
hörten“, erinnert sich die Zeitzeugin. Später werden sie und ihre | |
Angehörigen ins Konzentrationslager Dachau verlegt. | |
Auf dem Weg dorthin erlebt sie etwas Sonderbares, das sie nie vergessen | |
wird: „Ich weiß nicht, wie es möglich war, aber in unser Quasigefängnis, | |
einem alten Schulgebäude, kam ein kleines Mädchen mit einem Puppenwagen | |
herein. Und unter der Matratze des Puppenwagens hatte ihre Mutter eine | |
riesige Wurst versteckt – das war ein wunderbares Erlebnis.“ | |
Als die Odyssee der „Sippen- und Sonderhäftlinge“ in Dachau schließlich | |
beginnt, ist auch für das kleine Mädchen die „unglaubliche Angst“ spürba… | |
die in der Gruppe herrscht: „Aber unsere Mutter hat uns so viel Schutz | |
gegeben, sie hat immer versucht, uns eine Art normales Leben zu | |
ermöglichen, uns abzuschirmen, soweit es ging, etwa von den teilweise | |
entsetzlichen Anblicken in den verschiedenen Lagern.“ | |
Während der Irrfahrt, die über die Alpen bis nach Tirol führt, so der | |
Rückblick von Sybille-Maria Beckmann, waren die Versuche der Kabarettistin | |
Isa Vermehren, ihre Mitgefangenen mit Liedern und Ziehharmonika | |
aufzuheitern, besonders eindrucksvoll. Die Reise jedenfalls endet für die | |
Verschleppten glücklich. Dass sich Beckmann in der TV-Dokumentation zu den | |
Geschehnissen äußert, ist ihr ein Anliegen – um zu erinnern, damit sich das | |
Furchtbare der Nazizeit nicht mehr wiederholt: „Auch meine Eltern gehörten | |
ja zur ’schweigenden Generation‘, wir Kinder haben uns kaum mit ihnen über | |
diese schwere Zeit unterhalten können.“ | |
## Der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt | |
Dass sich jetzt, da sich bald das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal | |
jährt, das Fernsehen dieser Geschichte annimmt, liegt für Stefan Brauburger | |
auf der Hand: „Die Ereignisse von damals sind einer breiteren | |
Öffentlichkeit kaum bekannt, und sie stehen beispielhaft für die Wirren | |
kurz vor Kriegsende.“ Aber nicht nur das, sondern auch die Inszenierung mit | |
aufwendigen Spielszenen in Verbindung mit einer subjektiven | |
Erzählperspektive machen das Dokudrama aus der Sicht des Leiters der | |
Redaktion Zeitgeschichte beim ZDF zu einer Besonderheit: „Wir erzählen die | |
Geschichte aus der Sicht von Fey von Hassell Pirzio-Biroli, Tochter des | |
Diplomaten und Widerstandskämpfers Ulrich von Hassell.“ | |
Dass sich die Orientierung an Biografien und individuellen Erlebnissen | |
verstärken wird, wenn es um Geschichtsvermittlung im Fernsehen geht, davon | |
ist jedenfalls der Produzent des Dokudramas, Reinhardt Beetz, überzeugt: | |
„Das ist ein Element, mit dem sich historische Ereignisse sehr gut | |
vermitteln lassen.“ Bei „Wir, Geiseln der SS“ bestand die große | |
Herausforderung für ihn vor allem darin, so erzählt Beetz, Zeitzeugen und | |
Experten zu finden und den Cast eng auf die authentischen, historischen | |
Personen abzustimmen. | |
7 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Urbe | |
## TAGS | |
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Kriegsende | |
Staatsschutz | |
Erika Steinbach | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Gedenken | |
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