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# taz.de -- Romanverfilmung von Aron Lehmann: Wahrheiten aus dem Westerwald
> „Was man von hier aus sehen kann“ verhandelt existenzielle Themen im
> kleinen Dorf. Magischer Realismus und Humor treffen auf Tieftrauriges.
Bild: Szene aus „Was man von hier aus sehen kann“: Luise (Luna Wedler) mit …
Weihnachten ist die Zeit der einfachen Wahrheiten. Einfach, weil sie
universal nachfühlbar sind. Ganz und gar nicht einfach in dem Sinne, als
dass diese Wahrheiten einzugestehen, gar nach ihnen zu leben, kein Leichtes
ist. Dass Mariana Lekys vor fünf Jahren erschienener Roman „Was man von
hier aus sehen kann“ exakt solche Wahrheiten verhandelt, ist wahrscheinlich
maßgeblich für den enormen Erfolg, den das Buch seither erfahren hat.
Insofern ist der Zeitpunkt, zu dem die Kinoadaption von Regisseur und
Drehbuchautor Aron Lehmann erscheint, genau richtig gewählt. Zwischen den
Jahren, wenn die allgemeine Stimmung noch eine der Besinnung ist. Wenn
Fragen, wie „Was möchte ich eigentlich von diesem, meinem Leben?“
Konjunktur haben, die Uhren ein wenig langsamer ticken und Gefühligkeit
nicht unmittelbar der Verdacht des Kitsches anhängt – oder dieser zumindest
nicht ganz so schwer wiegt wie in den nüchterneren Phasen des Jahres.
Der Film, der sich jeder definitiven Genrezuschreibung stur entzieht,
handelt von den existenziellsten Themen überhaupt. Von der so
tiefempfundenen Liebe, dass sie ein ganzes menschliches Dasein trägt, und
vom Tod, der so erbarmungslos zuschlägt, dass er Lücken hinterlässt, die
derart groß sind, dass, um sie zu schließen, ein solches menschliches
Dasein niemals genügen kann.
Wahrscheinlich ist aber auch das Teil der Ursache, warum Lekys Erzählung so
weiten Anklang findet: Im Buch, wie nun auch in der filmischen Übersetzung,
werden diese Wahrheiten über die Bedingungen des Menschseins, die
Notwendigkeit des Liebens und Vergehens sowie der Schmerz, der ihnen
innewohnt, mit einer Menge linderndem magischem Realismus gereicht.
Großmutter Selma (Corinna Harfouch) ist die Verkörperung einer wundersamen
Verbindung dieser beiden Pole. Am Ende der Dorfstraße lebend, etwas
außerhalb dieser verschlafenen Gemeinde im Westerwald, ist sie laut ihrer
Enkelin Luise (Ava Petsch/Luna Wedler) die Einzige, die hier nichts
versteckt. Die, die sprichwörtlich ihr Herz auf der Zunge trägt und frei
heraus ihre Meinung sagt, auch wenn es nicht immer das ist, was ihre
Mitmenschen hören wollen.
## Okapi in den Träumen
Bei allem Hang zum Handfesten ist es jedoch auch sie, die dem Dorfleben der
1980er Jahre einen gewissen Zauber einhaucht, indem sie den immer gleichen
Alltag mit [1][Übersinnlichem und Unerklärlichem] auflädt. Denn seit ihrer
eigenen Jugend verfügt sie über seherische Fähigkeiten. Wenn ein Okapi in
ihrem Träumen erscheint, bedeutet das, dass binnen der nächsten 24 Stunden
jemand zu Tode kommen wird. Einst sah sie so das frühe Lebensende ihrer
eigenen großen Liebe voraus.
Wenn ihre 10-jährige Enkelin Luise die Aufrichtigkeit ihrer
Ausnahme-Großmutter beschwört, geht sie gleichsam darauf ein, welche
einfachen Wahrheiten die Dorfmitbewohner lieber verdrängen, als sich ihnen
zu stellen: Da ist etwa ihre eigene Mutter Astrid (Katja Studt), die
verbirgt, dass sie in den Eiscafé-Besitzer Alberto (Jasin Challah) verliebt
ist, welcher wiederum zu verheimlichen versucht, dass er gar kein Italiener
sondern Grieche ist. Oder ihr Vater, der versteckt, dass er sehr wohl weiß,
dass Astrid ihn gar nicht mehr liebt.
In der Gegenwart vermeidet die dann erwachsene, als Erzählerin auftretende
Luise selbst vor allem den Blickkontakt und fürchtet sich davor, die
Unwahrheit zu sagen, weil stets etwas zu Bruch geht, wenn sie es tut. Das
bedeutendste Versteckspiel im Dorf, auf das sie zu Beginn hinweist, ist
jedoch das des namenlosen Optikers (Karl Markovics).
Schlau, aber schüchtern, hat er sich ein sorgsam geordnetes Leben
eingerichtet, dessen Innen nur in ebenso ordentlich katalogisierten Briefen
nach draußen dringen darf. Darin gesteht er Selma regelmäßig seine Gefühle,
wagt es aber nicht, sie ihr tatsächlich mitzuteilen.
Niemand liebt niemanden, das scheint in diesem beschaulichen Dorf, wo
Filmemacher Lehmann mit Autorin Leky das Große im Kleinen verhandelt, ganz
besonders zu gelten. Eine allzu starke Fokussierung auf die romantische
Liebe findet in „Was man von hier aus sehen kann“ allerdings nicht statt.
## Schwarzer Humor als zuverlässiger Fluchtpunkt
Dafür spielt der skurrile Witz, den Aron Lehmann für die Adaption gekonnt
zuspitzt, eine zu große Rolle. Schwarzer Humor wird zum zuverlässigen
Fluchtpunkt, wenn sich die Geschichte dem schier unerträglich Traurigen
zuwendet.
Mit welcher Raffinesse ihm diese Verkettung mitunter gelingt, stellte der
Regisseur und Drehbuchautor in der Vergangenheit unter anderem bei der
Netflix-Serie „Das letzte Wort“ unter Beweis, in der Anke Engelke als
Witwe, die eine zweite Karriere als Trauerrednerin beginnt, zu
tragikomischer Höchstform aufläuft.
Wenn Humor hier ebenso wie die magischen Elemente zur Abschwächung der
bitteren Medizin, die Lekys Erzählung eben auch ist, verabreicht wird, ist
man als Zuschauer meist dankbar – kommt gleichsam jedoch nicht umhin zu
glauben, dass so manche Wahrheit besser in ihrer gesamten Bitterkeit
genossen werden muss, damit sie tatsächlich ihre Wirkung entfalten kann.
Das gilt insbesondere für eine frühe Schlüsselsequenz, in der Großmutter
Selma erneut von jener Unheil verheißenden Waldgiraffe träumt und die
gesamte Gemeinschaft über die Furcht, man selbst könnte der Abzulebende
sein, in Aufruhr versetzt wird. Wie im Wahn beginnen die Menschen, Briefe
einzuwerfen, in denen sie sich endlich alles von der Seele schreiben oder
sich ganz unmittelbar ihre Liebe gestehen.
Es ist einer der prägnantesten Momente der knapp über 100-minütigen
Spielzeit, weil er die nicht zu leugnende Erkenntnis enthält, dass sich der
Mensch den unumstößlichen, aber unbequemen Wahrheiten am liebsten entzieht,
solange er sich einreden kann, dass noch genug Zeit bleibt, sich ihnen ein
anderes Mal zu stellen.
Um als nachhallende Vanitas-Einsicht zu fungieren, folgt jedoch zu schnell
der nächste Lacher, kommt die Erleichterung, bevor sich der
Memento-mori-Gedanke erst festsetzen konnte.
## Anekdotenreicher Ensemblefilm
Für Luises besten Freund Martin (Cosmo Taut), der wenig später bei einem
tragischen Unfall zu Tode kommt, gilt das freilich nicht. Ist ihre
gemeinsame Geschichte erst zu Ende erzählt, konzentriert sich die
herausragend ausgestattete Tragikomödie verstärkt auf die Jetzt-Zeit. Der
Fokus auf zwei statt drei Zeitebenen ist der greifbarste Unterschied, den
sich Aron Lehmann gegenüber der Buchvorlage erlaubt und es ist gleichsam
die größte Schwäche des Films.
Luises Liebesgeschichte, die neben jener zwischen Großmutter und Optiker
eigentlich zu den zentralen Handlungselementen dieses an Anekdoten überaus
reichen Ensemblefilms gehört, verkümmert so zu einer übereilten
Verliebtheit zwischen ihr und Frederik (Benjamin Radjaipour).
Zu hastig ist die Figur des Frederik in das Geschehen eingeführt, sie
schrumpft als ständig mampfender buddhistischer Mönch, der eigentlich aus
Hessen kommt, auf die Größe einer bloßen Karikatur.
Die größte Stärke von Mariana Lekys Roman, dass hier nichts so recht
zusammenzupassen und doch zusammengehören zu scheint, ganz wie im Falle des
[2][zentralen Symboltiers], geht in der Adaption damit zumindest ein Stück
weit verloren – ebenso die poetische Kraft die dem kryptischen Titel
innewohnt, dessen Bedeutung dem Kinopublikum verschlossen bleibt.
Auch das ist eben eine dieser einfachen Wahrheiten: Der Westerwald und
seine wundersamen Bewohner sind, wie nahezu jede erdachte Welt und ihre
Figuren, in der eigenen Fantasie noch ein wenig famoser, als sie es in die
Realität des Films übersetzt je sein könnten. Die bedeutendste Wahrheit ist
es aber sicherlich nicht, die man aus diesem Kinobesuch mitnimmt.
29 Dec 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Arabella Wintermayr
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