# taz.de -- Neuer Roman von Judith Hermann: Unerschrocken in der Kiste | |
> Mit dem Roman „Daheim“ hat Judith Hermann die Geschichte eines Aufbruchs | |
> geschrieben – und sich als Schriftstellerin neu erfunden. | |
Bild: Judith Hermann ist 1998 mit ihrem Erzählband „Sommerhaus, später“ b… | |
Der Roman beginnt mit einem Rückblick. Auf ein Leben vor 30 Jahren, das von | |
einer geregelten Arbeit in einer Zigarettenfabrik, aber auch vom Gefühl der | |
Freiheit geprägt ist, jederzeit neu anzufangen. [1][Judith Hermann] | |
beschreibt in „Daheim“ eine namenlose Ich-Erzählerin, die sich mit Anfang | |
zwanzig dem Rausch des Rauchens hingibt und sich aus den „Zusammenhängen“ | |
herauszuhalten versucht, auch wenn sie erkennt, dass die Maloche am Band | |
„uns alle zu erledigten Geschöpfen machte“. | |
Es ist die erste Überraschung dieses wendungsreichen Romans, dass | |
ausgerechnet jene Autorin, die ihre Figuren oft jenseits aller ökonomischen | |
Zwänge erzählte, nun ein feines Gespür für Klassenverhältnisse offenbart. | |
Daheim verbringt die junge Frau viel Zeit auf dem Balkon im fünften Stock, | |
vor allem an heißen Sommertagen. Die Erzählerin schaut zur | |
gegenüberliegenden Tankstelle, beobachtet anfahrende Autos und die | |
Tankenden, die auf die digitalen Ziffern der Zapfsäule starren, aber zu | |
träumen scheinen. | |
Mit all den unbekannten Leuten geht sie gedanklich auf Reisen, und damit | |
ist einer folgenschweren Begegnung auch motivisch der Boden bereitet: An | |
einem Abend trifft sie an der Kasse der Tankstelle einen seltsamen Mann im | |
Anzug mit schlohweißen Haaren, der sich als Zauberer vorstellt und sie ohne | |
Umschweife fragt, ob sie ihm nicht beim alten Trick mit der zersägten Frau | |
assistieren wolle. | |
## Ein unheimliche Episode | |
Tatsächlich legt sich die Unerschrockene auch bald in die dargebotene | |
Holzkiste, und es fehlt nur noch, dass der Trick keiner ist und viel Blut | |
spritzt. Was als mögliches Ende einer Short Story aufscheint, ist hier nur | |
ein erzählerischer Auftakt: Die Autorin nutzt die unheimliche Episode, die | |
das Leben der Frau prägen wird, sehr geschickt für die Gesamtkomposition | |
des Romans, ohne dass es zunächst erkennbar wäre. | |
Statt mit dem etwas biederen Zauberpaar nach überlebter Kistennummer auf | |
Kreuzfahrt-Tournee zu gehen, tritt die Erzählerin eine andere Reise an, um | |
zusammenzufügen, was in der engen Kiste eben doch zerteilt worden war, | |
„nicht körperlich, eher Kopf. Vielleicht im Herzen“. | |
Sie verlässt die Zigarettenfabrik, lernt Otis kennen, heiratet ihn, bringt | |
Tochter Ann auf die Welt, trennt sich wieder und sucht am Rande eines | |
norddeutschen Küstendorfes die Einsamkeit und sich selbst. Es wird eine | |
Weile dauern, bis aus der Fremde ein neues Zuhause wird, ganz ohne | |
Projektionen, ein Ort, der Geborgenheit bietet, mitsamt der sozialen | |
Konflikte, die für ein tragfähiges Verhältnis zur neuen Heimat nötig sind. | |
Wie Judith Hermann von einem ländlichen Daheim erzählt, ohne die Zumutungen | |
des Ländlichen auszulassen, gehört zu den Stärken dieses virtuosen Romans. | |
Die Protagonistin fürchtet sich in der Einsamkeit schon bald vor Geräuschen | |
im Haus, die vielleicht von einem Marder stammen, und so muss sie sich den | |
Einheimischen anvertrauen, die völlig anders gestrickt sind. Dabei geht es | |
weniger um das Verhältnis von Urbanität und Provinz, sondern um die Frage, | |
wie sich radikal individualisierte Menschen begegnen, wie sie | |
Gemeinsamkeiten bei all den Differenzen finden. | |
## Nichts wird verklärt | |
So geheimnisvoll sich manche Beziehungen in dem Buch gestalten, nichts und | |
niemand wird verklärt. Die finanziellen Zwänge bleiben immer präsent. Die | |
Liebe des fast sechzigjährigen Bruders Sascha zur zwanzigjährigen Nike, die | |
nicht nur schlechte Zähne hat, sondern von ihren Eltern in irgendwelche | |
Kisten eingesperrt wurde, entwickelt sich bald zum Drama. | |
Zwei weitere Figuren tragen zum Gelingen des Romans bei: Da ist zum einen | |
Mimi, die nach drei gescheiterten Ehen wieder leben möchte, „wo sie | |
herkam“. Die Bildhauerin badet nackt im brackigen Hafenwasser, spricht | |
gerne von ihren „Wurzeln“ und ihrer „Wallung“. Über Mimi lernt die | |
Erzählerin den Hoferben Arild kennen, der nicht nur zighundert Schweine im | |
Stall stehen hat, sondern auch in der Lage ist, eine Marderfalle | |
aufzustellen. | |
Behutsam nähern sich die grundverschiedenen Charaktere einander an, die | |
Sehnsuchtsreisende und der zupackende Mann, der sein Dorf nie verlassen | |
hat. Als Arild ihr ein Tiefkühlkost-Dinner mit Fertigschnitzel und | |
verkochten Kartoffeln bereitet, wäre das ein passender Anlass, alle | |
Ambitionen fahren zu lassen. Aber die Frau betritt das Schlafzimmer des | |
Bauern, das sie für „eine Zentrale zur Durchsetzung eines komplizierten und | |
persönlichen Systems“ hält. | |
Auf diesen Seiten, als die Motive ineinandergreifen, die Trickkiste durchs | |
Liebesbett ersetzt wird und das Zersägen einem zumindest etwas zärtlicheren | |
Zauber weicht, als draußen vor der Tür die Marderfalle wieder beim falschen | |
Tier zuschlägt, beim Bewundern dieser sprachlich wie dramaturgisch | |
gelungenen Prosa, dachte ich an die vorangegangenen Werke Judith Hermanns. | |
Wie war das damals, 1996, als ihr Erzählband „Sommerhaus, später“ | |
herauskam, der von Kritik und Publikum anfangs ignoriert wurde, um dann von | |
Marcel Reich-Ranicki ausgiebig gelobt zu werden? | |
## Kein Wunder, sondern Notwendigkeit | |
Die Eloge im Fernsehen löste jedenfalls einen Hermann-Hype aus. Das | |
Debütbuch entwickelte sich auch zur literarischen Bezugsgröße, erschienen | |
in der Folge doch zahlreiche Erzählbände von Autorinnen, die sich, ähnlich | |
wie Judith Hermann, auf den lakonischen Stil Raymond Carvers bezogen. Es | |
wurde sogar ein Feuilletonetikett für dieses Phänomen erfunden, das hier | |
mal nicht erwähnt wird, weil es so sexistisch wie nichtssagend ist. | |
Denn es war keineswegs ein Wunder, sondern eine notwendige Entwicklung, als | |
Ende der 1990er Jahre in Deutschland nicht nur ein paar wenige, sondern | |
endlich viele junge Autorinnen kurze und etwas längere Prosa vorlegten und | |
damit den hiesigen, von Männern dominierten Literaturmarkt veränderten. | |
Judith Hermann wollte keine Galionsfigur dieser literarischen Wende sein, | |
wurde es trotzdem, und manche scharfe Kritik ihrer folgenden Werke lässt | |
sich vermutlich durch ihre herausragende Stellung im Buchmarkt erklären. | |
Doch boten ihre Bücher literarische Schwächen, die auch bei einer | |
Wiederlektüre auffallen. Manchmal überlagerte der mediale Radau die seriöse | |
Rezension. | |
Dabei schienen ihre Texte auch Fluchtgeschichten vor der übersteigerten | |
Erwartungshaltung des Publikums zu sein: In ihrem 2003 veröffentlichten | |
Erzählband „Nichts als Gespenster“ schickte Hermann ihre zumeist | |
gelangweilten Figuren in die Ferne, um bloß nicht als Berliner | |
Heimatautorin zu gelten. Dabei wurde auch der Sound ihrer | |
dauermelancholischen Prosa zum Problem, der zwar zum Markenzeichen taugte, | |
aber literarisch kaum Abwechselung bot. | |
## Maßvolle und wirkungsmächtige Bilder | |
Zur großen Enttäuschung wurde [2][Hermanns erster Roman] „Aller Liebe | |
Anfang“, der eine zähe Stalking- und Ehegeschichte aus bekannten | |
Versatzstücken bot. In „Daheim“ hingegen verliert sich die Autorin nicht im | |
Kleinklein der Beschreibung, sondern weiß auch längere Erzählbögen | |
kunstvoll zu spannen. Die zentralen Bilder und Metaphern werden maßvoll und | |
damit wirkungsmächtig gesetzt. | |
Statt weiterhin ein schwermütiges Raunen zu kultivieren, setzt ihre Prosa | |
jetzt auf unterschiedliche Tonfälle. Neben düsteren Passagen gibt es | |
heitere, gar lustige Szenen. Über Arild heißt es an einer Stelle: „Er hatte | |
eine Taschenlampe dabei und einen Vorschlaghammer. Ich fand ihn | |
unwiderstehlich.“ | |
Die Geschichte ist sowohl realistisch als auch allegorisch zu lesen: Wir | |
alle leben in irgendwelchen Kisten, hocken vor oder in Fallen des Lebens, | |
das durch merkwürdige Erfahrungen zersägt zu werden droht. Die Literatur | |
selbst ist eine große Zauberkiste, die Erinnerungen erst auseinandernimmt, | |
um dann etwas Neues entstehen zu lassen. | |
Das Buch ist ein Familienroman, der mit vielen Vorstellungen von Familie | |
aufräumt; es handelt sich aber auch um die Suche nach einer neuen Heimat, | |
die eine Figur an den Rand des Landes und an die Grenze ihrer unsicheren | |
Identität führt. Hermann bleibt ihren Themen durchaus treu, schreibt sie | |
doch erneut über das verstörende Wechselspiel von Nähe und Distanz. | |
## Groteske Essensszenen | |
Dieses Mal entstehen allerdings äußerst eindringliche Momente, etwa in | |
gruselig-grotesken Essensszenen und sparsam ausgeführten Liebesvolten. | |
Alles fügt sich und steuert auf ein wiederum überraschendes Finale zu, in | |
dem mit falschen Sorgen und bitteren Schockmomenten jongliert wird, womit | |
das Zaubermotiv auch erzählerisch eingelöst wird. | |
Die geheimnisvollste Figur in diesem vielschichtigen Roman bleibt Otis, der | |
seiner großen Liebe auch nach der Trennung ausführlich schreibt. Schon in | |
Ehezeiten lebten die beiden in zwei verschiedenen Wohnungen, auch weil | |
seine Behausung eine Art „Lager, ein eigenartiges und versponnenes Archiv“ | |
ist. Otis sammelt alles und kann nichts loslassen. Er hat ein phänomenales | |
Gedächtnis und korrigiert auch schon mal die Erinnerungen seiner Exfrau. | |
Otis lebt in der Erwartung, die Welt werde untergehen. Die Angst vor dem | |
Tod ist in „Daheim“ ständig präsent, und als Otis schließlich doch sein | |
Lager der schmerzhaften Absicherung auflöst, als die weltreisende Tochter | |
sich nicht nur mit Geodaten zu ihrem Aufenthaltsort, sondern auch mal | |
telefonisch meldet, kann die melancholische Mutter endlich die „Sehnsucht | |
nach allem, was ich einmal hatte“, hinter sich lassen und noch mal neu | |
anfangen. Was für ein schöner, in sich verschlungener Roman. | |
27 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Das-war-die-Woche-in-Berlin-II/!5318754 | |
[2] /Judith-Hermanns-erster-Roman/!5035579 | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
## TAGS | |
Literatur | |
Roman | |
Leben | |
Prosa | |
Buch | |
Literatur | |
Literatur | |
Literatur | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025 | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Joy Williams Buch „Stories“: Mit tiefer Verwunderung | |
Was Menschen sich antun, und wie sie ihr Leben meistern: In „Stories“ von | |
Joy Williams ist eine große Erzählerin zu entdecken. | |
Lesereihe „Literatour Nord“: Norden bucht Gegenwart | |
Die „Literatour Nord“ schickt sechs Autor*innen auf die Reise von | |
Osnabrück bis Rostock: ein Lesefest, das zugleich Zeitgenössisches an Unis | |
lotst. | |
Neuer Roman von Felicitas Hoppe: Unbesiegbar und sterblich zugleich | |
Felicitas Hoppe hat die Nibelungensaga furios neu geschrieben. Ihr | |
Stummfilm mit Dialogen in der Umkleide wirkt wie von Tarantino inspiriert. | |
Neuer Roman von Zeruya Shalev: Im Gefängnis der Kindheit | |
Zeruya Shalevs Roman „Schicksal“ ist ein Familien- und Freiheitsdrama. | |
Zugleich ist es eine Anklage gegen die Gewalt in der Geschichte Israels. | |
Coming-of-Age in Niedersachsen: Ins Dunkle kippen | |
Lisa Krusche lässt magischen Realismus durchs ländliche Niedersachsen | |
wehen. Ihr Roman erzählt von Hippies und Jungsein: „Unsere anarchistischen | |
Herzen“. | |
Nominierungen für Leipziger Buchpreis: Jury macht Schotten dicht | |
Gute Bücher, aber eine fragwürdige Auswahl jenseits aktueller Debatten: die | |
Nominierten für den Leipziger Buchpreis wurden bekannt gegeben. | |
Judith Hermanns erster Roman: Mommy Horror | |
Kunstvoll und beängstigend: Nun ist der erste Roman der Schriftstellerin | |
Judith Hermann erschienen – die Stalkerfantasie „Aller Liebe Anfang“. |