| # taz.de -- Neuer Roman von Felicitas Hoppe: Unbesiegbar und sterblich zugleich | |
| > Felicitas Hoppe hat die Nibelungensaga furios neu geschrieben. Ihr | |
| > Stummfilm mit Dialogen in der Umkleide wirkt wie von Tarantino | |
| > inspiriert. | |
| Bild: Eine gute Geschichte muss immer rätselhafte Motive enthalten: Felicitas … | |
| Kaum ein literarischer Stoff scheint hierzulande so oft interpretiert, | |
| analysiert, bearbeitet, umgeschrieben, rezitiert, dramatisiert, verfilmt, | |
| besungen und gelesen worden zu sein wie die Geschichte der Nibelungen, was | |
| nicht verwundern sollte, bietet sie doch eine äußerst umfangreiche | |
| Themenpalette: Es geht um Liebe und Wahnsinn, Betrug und Rache, | |
| zweifelhafte Sekundärtugenden wie Ehre und Treue, die auch in diesem Fall | |
| zu Mord und Totschlag führen. | |
| Die Hingabe zur literarischen Legende, die als Nibelungenlied in | |
| unterschiedlichen Textvarianten zu Beginn des 13. Jahrhunderts | |
| niedergeschrieben wurde und zu der es noch weitaus ältere Sagen-Vorläufer | |
| gibt, war allerdings nicht ungebrochen. | |
| Nach Epochen, in denen Blutbäder und geheimnisvolle Schätze offenbar nicht | |
| ganz so interessant waren, hat sich das Nibelungenlied dann im 18. | |
| Jahrhundert zum Nationalepos der Deutschen entwickelt, wobei Siegfried, der | |
| Drachentöter, als großer Held verehrt wurde. Wir denken nicht zuletzt an | |
| Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, der mit seinem Bühnenwerk nicht nur | |
| einen musikalischen Kult begründete. | |
| Auch nach dem Ende des nationalsozialistischen Nibelungenwahns verschwand | |
| der Erzählschatz [1][keineswegs in der Versenkung.] Autorinnen und Autoren | |
| wie Volker Braun, Jürgen Lodemann, Helmut Krausser, Moritz Rinke, John von | |
| Düffel und Ulrike Draesner legten dann weitere, sehr unterschiedliche | |
| Bearbeitungsvarianten des historischen Materials vor, und nun hat | |
| [2][Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe] sich in diese Tradition mit | |
| einem Werk eingereiht, das weniger dem weihevollen Pathos als vielmehr dem | |
| Grotesken des Blut-und-Boden-Dramas und vor allem der Nibelungenfolklore | |
| nachspürt. | |
| „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ heißt das Buch, das der Frage | |
| nachgeht, in welcher Sprache das historische Drama heute angemessen | |
| dargestellt werden könnte. Der Clou in Hoppes Version ist eine | |
| Erzählinstanz, die nur schwer zu greifen ist: Zunächst betrachten wir die | |
| Geschehnisse auf der Bühne der Wormser Nibelungenfestspiele, und zwar aus | |
| der Perspektive eines Besuchers, der ständig zwischen Weitwinkel und | |
| Radikalzoom wechselt und eine Inszenierung nach „erprobter Hausfrauenart“ | |
| zu sehen meint. | |
| ## Eine hässliche Geschichte | |
| Andererseits schippert ein „Zeuge im Beiboot“ auf Rhein und Donau zu den | |
| historischen Schauplätzen, und dieser Berichterstatter möchte, durchaus in | |
| der Tradition der Nibelungenklage, die historischen Figuren gegenüber | |
| Fehldeutungen der „hässlichen Geschichte“ verteidigen. | |
| Felicitas Hoppe arbeitet die Widersprüche des Stoffs, die sich auch und vor | |
| allem an den Geschlechterverhältnissen am Hofe in Worms festmachen, so | |
| ernsthaft wie ironisch heraus: Kriemhild führt nicht nur das Schwert, | |
| sondern auch ein Buttermesser, und wird – wie in der Vorlage – dafür büß… | |
| müssen, weil sie sich am Ende nicht wie eine demütige Ehefrau, sondern wie | |
| ein rachsüchtiger Mann verhält. | |
| Und Siegfried? Eine paradoxe Gestalt, die „unbesiegbar und sterblich | |
| zugleich“ ist und dessen seltsamer Tod zu der Frage führt: „Hat ein | |
| Lindenblatt auch seine eigene Ehre?“ Hoppe weiß um den Aberwitz | |
| insbesondere der fantastischen Aspekte, befasst sich ausgiebig mit | |
| Blutbädern und Häutungen, mit Tarnkappen und anderen Zaubereien. Kein | |
| Wunder, dass sich Fantasy-Blockbuster wie „Game of Thrones“ bei den | |
| Nibelungen bedient haben. | |
| ## Ressentiments loswerden | |
| Hoppes Drehbuch aber wirkt eher von Tarantino und Schlingensief inspiriert, | |
| und so ist es auch kein Wunder, dass in diesem „Stummfilm“ viel geredet | |
| wird, vor allem in den Pausen der Festspielaufführung. So betreten wir die | |
| Umkleide, und ein selbstbewusster Kerl, der den Hagen von Tronje spielt, | |
| darf – wie alle anderen Hauptfiguren – über die eigene Rolle plaudern und | |
| ein paar Ressentiments loswerden: „Als Rheinländer habe ich kein Problem | |
| mit Gewalt, sondern mit der Donau.“ | |
| Die fiktiven Interview-Sequenzen sind der literarische Höhepunkt dieses | |
| eigenwilligen Nibelungenromans, der ganz nebenbei die Rezeptionsgeschichte | |
| des Stoffs mit vielen versteckten Verweisen aufgreift und parodiert. | |
| ## Literarisches Erbe | |
| Vielleicht sind die Nibelungen nicht bühnentauglich, mag man sich bei der | |
| Lektüre des Buches denken, so banal und verrückt sind die Motive, so | |
| inkonsistent die Charaktere. Im Nibelungen-Stoff aber steckt, auch das | |
| lernen wir bei Hoppe, ein wichtiges literarisches Erbe, dass nämlich eine | |
| gute Geschichte immer rätselhafte Momente enthalten muss. | |
| Gegen Ende stellt die Erzählerin die lustige Frage: „Hätte man die | |
| Botschaft nicht einfach twittern können?“ Nein, auf keinen Fall. Das hieße, | |
| auf die schillernde Prosa von Felicitas Hoppe zu verzichten, die nun gerade | |
| zeigt, dass es eine einfache Botschaft nicht gibt, wenn Starrsinn, Hass und | |
| Vernichtungswille den Diskurs prägen. | |
| 24 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nibelungen-am-Berliner-Ensemble/!5772951 | |
| [2] /Buechner-Preistraegerin-Hoppes-neuer-Roman/!5093817 | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Klassiker | |
| Richard Wagner | |
| Stummfilm | |
| Roman | |
| Richard Wagner | |
| Oper | |
| Roman | |
| Bayreuther Festspiele | |
| Literatur | |
| Kolumne Flimmern und Rauschen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Ring“-Inszenierung in Bayreuth: Vom Knatsch begüterter Familien | |
| Regisseur Valentin Schwarz zeigt in Bayreuth Wagners „Ring“ als toxische | |
| Familiensaga. Dabei deutet er Figuren und ihre Beziehungen neu. Geht das | |
| gut? | |
| Kinderoper „Iwein Löwenritter“ in Bonn: Mittelalter-Action im Zoo | |
| Bei der Kinderoper „Iwein Löwenritter“ von Moritz Eggert und Andrea Heuser | |
| stimmt fast alles. Die Premiere an der Oper Bonn gerät bildgewaltig. | |
| Neuer Roman von Ulf Erdmann Ziegler: Erzählen ohne Mandat | |
| Was bringt es, die nahe politische Vergangenheit in der Fiktion noch mal | |
| neu zu beobachten? „Eine andere Epoche“ sucht darauf eine Antwort. | |
| Hermann Nitsch in Bayreuth: Mit Schrubbern und Eimern | |
| Bei den Bayreuther Festspielen kommentiert Hermann Nitsch „Die Walküre“ von | |
| Wagner mit einer gigantischen Malaktion. Das passt erstaunlich gut. | |
| Neuer Roman von Judith Hermann: Unerschrocken in der Kiste | |
| Mit dem Roman „Daheim“ hat Judith Hermann die Geschichte eines Aufbruchs | |
| geschrieben – und sich als Schriftstellerin neu erfunden. | |
| Wormser Nibelungenfestspiele und Ufa: Neues von Siegfried und Roy | |
| Das Zauberduo bekommt endlich einen Film. Klaus Maria Brandauer ist Star | |
| der Wormser Nibelungenfestspiele – und was ist mit der Ufa? |