Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neuer Roman von Ulf Erdmann Ziegler: Erzählen ohne Mandat
> Was bringt es, die nahe politische Vergangenheit in der Fiktion noch mal
> neu zu beobachten? „Eine andere Epoche“ sucht darauf eine Antwort.
Bild: Ziegler nähert sich der Politik, ihren Skandalen, ihren bestimmenden Fig…
Männer, die sich im Spiegel betrachten, das gibt es jetzt öfter. In
[1][Heinz Strunks] aktuellem Roman „Es ist immer so schön mit dir“ erblickt
der mittelalte Protagonist in seinem Spiegelbild vor allem Anzeichen des
Verfalls. Das ist nicht erstaunlich, [2][denn für Strunk ist alles
Verfall], nihilistischer als in diesem trotzdem sehr komischen Roman war er
außerdem selten.
In [3][Ulf Erdmann Zieglers] neuem Buch „Eine andere Epoche“, in dem es
gleich zwei solcher Spiegelszenen gibt, sieht die Sache etwas anders aus.
Als junger Mann empfindet und denkt der Held, er trägt den seltsamen Namen
Wegman Frost, beim Anblick seiner selbst dies: „Um Mitternacht besah sich
Wegman in seinem abgeschlossenen Zimmer nackt im Spiegel, band seine Haare
hinter dem Kopf wie ein Mädchen und fand sich sehr schön. Er beschloss, in
die Politik zu gehen.“
Und so geschieht es, nicht die Schönheit als solche, eher der Narzissmus
ist wohl das, was den sich spiegelnden Mann zu dieser Entscheidung
prädestiniert. Wegman Frost wird Politiker, für die SPD, anders als sein
Jugendfreund Florian Janssen, der FDPler mit
Vietnam-Adoptions-Hintergrund, der es bis zum Vizekanzler gebracht hat.
Für Wegman geht es dann leider deutlich weniger zügig voran, groß
rauskommen wird er wohl nicht mehr.
Büroleiter ist er, eigentlich nur wissenschaftlicher Mitarbeiter, wenn man
es genau nimmt, beim ehrgeizigen SPD-Bundestagsabgeordneten Andi Nair. Der
hat gerade ausgesprochen viel Aufmerksamkeit, als Vorsitzender des (von
heute aus muss man sagen: ersten) NSU-Untersuchungsausschusses. Auch Nair
hat Migrationshintergrund, sein Vater war Inder, aber auch ohne diese
Information sollte klar sein: Ulf Erdmann Zieglers Buch will ein
Schlüsselroman sein.
## Schlüsselroman ohne Verschlüsselung
Wobei im Prinzip gar nichts verschlüsselt ist, denn die Zuordnungen sind
völlig eindeutig: Florian Janssen „ist“ Philipp Rösler, Andi Nair der
nachmals (auch im Roman) wegen nie wirklich substanziierter
Kinderpornografievorwürfe aus der Politik wie der Öffentlichkeit
verschwundene Ex-SPD-Hoffnungsträger Sebastian Edathy.
Fiktiv werden sie vor allem durch die biografische Verbindung mit der zu
Romanzwecken erfundenen Protagonistenfigur, durch den sie mehr oder minder
private Vorgeschichten bekommen. Andere, nebenbei zum Beispiel mal Joschka
Fischer, tauchen unter richtigem Namen auf, die NSU-Mörderbande erst recht.
Wirklich interessant wird die Sache nicht als Schlüsselroman, sondern erst
wenn man die Frage umdreht: Also nicht herauszufinden versucht, wer im
Roman wer aus der Wirklichkeit ist, sondern ganz grundsätzlich überlegt,
was das eigentlich soll oder bringt, die Wirklichkeit nun noch einmal in
der Fiktion nachzuerzählen und um rein der Fantasie Entsprungenes –
Figuren, Plot, Liebesgeschichte – zu ergänzen.
Schließlich ist das alles noch gar nicht lange her und also bis in die
Details hinein noch erinnerlich: die NSU-Morde, der Ausschuss, die
Korruptionsvorwürfe gegen Christian Wulff, die schmutzigen Gerüchte über
seine Frau (sogar der Journalist Holger Schmale von der Berliner Zeitung,
der sie in Umlauf brachte, wird mit Namen genannt), Wulffs Rücktritt, die
Amtsübernahme durch Gauck, der im Roman nur „der Pastor“ genannt wird.
## Politroman aus dem Zentrum der Macht
Am großen Berliner Politroman, nahe an dessen Realitäten erzählt, hat sich
kein Geringerer als Rainald Goetz versucht und wurde kontrovers diskutiert
– seither wird jede*r, der oder die es ihm gleichtut, sich [4][an „Johann
Holtrop“, Goetz’ Verschiebung des Gegenwartsromans] in die Sphäre der
Wirtschaft, messen müssen. Ulf Erdmann Ziegler geht zu Beginn des Romans
mitten hinein: in die Büros des Bundestags.
Platziert seine Figuren, liefert in der erlebten Rede Erklärtext zu den
Mechanismen der Politik und ihres Betriebs. Erzählt wird anfangs im
Präsens, mit der U-Bahn rumpeln wir hinauf in den Prenzlauer Berg, wo
Wegman Frost lebt.
Dann aber schaltet die Erzählung zurück: vom Modus des Präsens ins
Präteritum. Die Prosa, die die Erwägungen ihres Helden in Sachen Liebe und
Politik, seine Beobachtungen der anderen und seiner selbst präsentiert,
verfährt die meiste Zeit psychologisch-realistisch.
Es wird zurückgeblendet in die Bückeburger Vergangenheit, auf Anfänge, die
sich nun fortsetzen. Es geht um seine eigentümliche Herkunft, er ist der
Sohn einer Deutschen und eines Native American, den diese in einem
Künstlerdorf namens Hope (sic!) kennengelernt hat.
## Christian Wulffs Spießertum trifft auf NSU
Der Essayist Ziegler geht jedoch mehrfach dazwischen. Etwas vornehmer als
Goetz, der im „Johann Holtrop“ die Figurenperspektive immer wieder
unverblümt kommentierend hinter sich lässt. Es werden Träume erzählt, da
gehen die Zeichen und ihre Bedeutungen quer. Und es gibt den Bruch oder
Sprung, heraus aus dem Präsens, dem Präsentieren, hinein ins Erwägen.
In einem „Versuch über Häuser“ überschriebenen Einschub geht es um den
Kontrast zweier Fotos. Das eine zeigt das des Bundespräsidenten in
Großburgwedel, von vielen Kommentatoren als Inbegriff von Wulffs Spießertum
verachtet. Das andere das ausgebrannte Haus des NSU-Trios in Zwickau. Die
Zeichen der Zeit werden zu einem Beobachtungs-Denkbild verdichtet.
Und die Zeit selbst wird in manchen Passagen in einem Parlando-Chronikton
präsentiert: „Die Banken sind gerettet. Limousinen werden exportiert.
Mehltau der Beständigkeit senkt sich auf das Land, ein gewisser Grauton,
mehr nicht.“
Das sind Passagen, die an ein anderes mögliches Vorbild in Sachen
Politikbetriebsroman erinnern können: [5][Wolfgang Koeppens] „Treibhaus“
über die Bonner Republik. In dessen Zentrum stand ein
SPD-Bundestagsabgeordneter. So weit ins Zentrum geht Ziegler nicht.
## Der Romanautor ist kein Journalist, kein Historiker
Er nähert sich der Politik, ihren Skandalen, ihrem Räderwerk, ihren
bestimmenden Figuren und ihrem Betrieb noch weiter vom Rand. Sein Wegman
Frost ist ein vergleichsweise kleines Licht, und das ist auch Absicht. Es
gibt einen zweiten großen Einschub, der auch eine Art Poetologie des Romans
unternimmt, unter dem Titel „Versuch über Glück“.
Hier spricht der Erzähler und positioniert sich selbst, im Verhältnis zur
Politik und zu seiner Figur, und er positioniert seine Figur in Relation
zur Geschichte, von der hier erzählt wird. Dieser Erzähler sagt klipp und
klar: „Der frühere Plan, Wegman selbst sprechen zu lassen, wurde verworfen.
Selbst dann, wenn er die Vorderbühne betritt, ist seine Geschichte nicht
wirklich Geschichte. Er hat kein Mandat.“
Es geht also, und das gilt für den ganzen Roman, um die richtige
Positionierung und den richtigen Abstand. Für das literarische Schreiben
über die Politik gibt es ebenfalls kein Mandat. Der Erzähler ist weder
Journalist, der für sein Publikum Dinge herauszufinden versucht. Noch ist
er Historiker, der seine Quellen genau recherchiert.
Der Romanautor erlaubt sich andere Formen von Distanz. Er erzählt vom
Erfundenen und von einer Randfigur her. Und er sucht auch zeitlich Abstand,
zehn Jahre liegen zwischen den zentralen Ereignissen des Berichts und
unserem Heute. Wie man den Titel des Buchs, „Eine andere Epoche“, zu nehmen
hat, bleibt dabei für Deutungen offen.
## Eine Relektüre des kaum Vergangenen
Manches ist vorbei, die Politikkarrieren von Christian Wulff und Philipp
Rösler. Das Versagen des Staats, das die Taten des NSU und deren
Aufarbeitung offenbarten, bleibt schmerzlich virulent, davon erzählt etwa
[6][Shida Bazyar in einem anderen politischen Gegenwartsroman „Drei
Kameradinnen“].
Ein Abschlussbericht ist Zieglers Buch aber sowieso nicht. Auch keine
Revision. Eher eine Relektüre des kaum Vergangenen in einem etwas anderen
Licht.
Die Fiktion wird zum Erkenntnisinstrument, indem sie Abstände einführt und
so im Tagesgeschäft Untergehendes festhält und kenntlicher macht. Und indem
sie zugleich privater und grundsätzlicher wird. Etwa in der zweiten
Spiegelszene des Buchs, zum Jahreswechsel, in der Wegman Frost sich fragt:
„Ob er eigentlich in einer guten Zeit lebt oder einer nicht so guten; ob es
richtig war, den Platz einzunehmen, der ihm zugewiesen wurde.“
Es ist natürlich nicht so, dass der Roman seiner Figur oder der Leserin
darauf klare Antworten gibt. Aber er sucht und findet doch eine Form für
etwas, das wir alle als Wirklichkeit kannten, eine Form, die die
zerfließende Zeit festhält und noch einmal anders beobachtbar macht, und
sei es nur für den Moment.
29 Sep 2021
## LINKS
[1] /Das-Teemaennchen-von-Heinz-Strunk/!5535783
[2] /Berlinale-Der-goldene-Handschuh/!5568976
[3] /London-in-den-80ern/!5028688
[4] /Johann-Holtrop-von-Rainald-Goetz/!5082172
[5] /Wolfgang-Koeppes-Radio-Reisereportagen/!5187336
[6] /Shida-Bazyar-ueber-Rassismus/!5772728
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
Roman
Buch
Philipp Rösler
Politik
Sebastian Edathy
Christian Wulff
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Literatur
Einsamkeit
Literatur
Alten- und Pflegeheime
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Roman von Ulf Erdmann Ziegler: Abgründe des Innenlebens
Der neue Roman von Ulf Erdmann Ziegler gleitet unmerklich vom Harmlosen ins
Unheimliche. „Es gibt kein Zurück“ ist spannend erzählt.
Buch über das Alleinsein: Depressiv in Wanderschuhen
Daniel Schreibers Essay „Allein“ erkundet Einsamkeit in der Pandemie. Das
Persönliche verwebt er geschickt mit dem Gesellschaftspolitischen.
Neuer Roman von Felicitas Hoppe: Unbesiegbar und sterblich zugleich
Felicitas Hoppe hat die Nibelungensaga furios neu geschrieben. Ihr
Stummfilm mit Dialogen in der Umkleide wirkt wie von Tarantino inspiriert.
Zweifel an den Corona-Regeln: Patriotenblues
Hinter all den Entbehrungen steckt irgendein statistisches Ziel. Zweifel an
der staatlichen Fürsorge kommen auf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.