| # taz.de -- „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz: Schweine des Kapitals | |
| > Rainald Goetz' Konzeptroman kommt bei den Kritikern schlecht an und wird | |
| > doch besprochen. Gewidmet ist er allen enthemmten Ich-Idioten. | |
| Bild: Das Leben ist kein Chanson für im System Gescheiterte. | |
| „Den Toten die Blüte, uns Lebenden die Tat.“ Das ist das morgendliche Motto | |
| von Johann Holtrop, der Hauptfigur von Goetz’ aktuellem Roman, der bei der | |
| Kritik nicht sehr gut ankam. Das Buch erfülle nicht die Kriterien eines | |
| Unterhaltungsromans, sei in seiner Vorstellung von den oberen 10.000 der | |
| Gesellschaft zu holzschnittartig, kenne keine Liebe und kaum Triebe (zu | |
| wenig Sex!). Der Autor neige zudem zu Größenwahn und Besserwisserei. | |
| Doch wenn dem so ist, warum schreiben alle von Spiegel über Welt bis | |
| Literaturen ausladende Besprechungen eines Romans, der ihnen vom Denken her | |
| viel zu blöde erscheint? Ach ja, kaum ein Totalverriss, der Goetz nicht | |
| nebenbei noch schnell einen begnadeten Schriftsteller nennt. Goetz ist und | |
| bleibt für den Betrieb der Mann mit den „großen Momenten“, dem Klagenfurt… | |
| Rasierklingen-Existenzialismus, Teil einer Vorstellung also, die er seit | |
| dreißig Jahren so gerne beobachtet und beschimpft. | |
| Und in „Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft“ macht er dies auf | |
| allerhöchstem Goetz-Niveau. Humorvoll, ironisch, angriffslustig und | |
| wunderbar gehässig – sehr gelungen! Dieser Wirtschaftsroman aus dem | |
| Innenleben eines Medienkonzerns wartet mit einem Ensemble völlig einseitig | |
| und total überzeichneter Personen auf, dass es eine Freude ist. Er enthält | |
| gerade im vorderen Drittel großartige Szenen und Beschreibungen. | |
| Dabei scheint eher nebensächlich, welchem realen Medienmanager der fiktive | |
| Holtrop tatsächlich gleicht, Goetz denunziert generell eine Haltung, die | |
| gestern auf Atomkraft und morgen auf Windräder machen kann, | |
| Wirtschaftseliten, die ihre Gewinne als Selbstläufer erachten und in einem | |
| unhinterfragbaren Status- und Konsumfunktionalismus Menschen und Branchen | |
| zyklisch versenken. „Holtrop glaubte einschränkungslos an die Freiheit | |
| seines selbstbestimmten Handelns.“ | |
| ## Karikatur des Systems | |
| Goetz karikiert konsequent ein korporatistisches System, welches sich im | |
| Übergang zum postideologischen Neoliberalismus befindet. Sein Holtrop | |
| amtiert als CEO eines Medienkonzerns („Assperg“, 80.000 Mitarbeiter | |
| weltweit, 15 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2000), dessen Schaltzentralen | |
| in Krölpa und Schönhausen, ost- und westdeutsche Provinz, liegen. Fahrer, | |
| Dienstwagen, durchstandardisierte Menschen, keine Abweichung: „Frau Därne | |
| brachte Kaffee, Holtrop machte den Fernseher an und schaltete auf stumm.“ | |
| Goetz sucht die Zuspitzung, literarisch macht er keine Friedensangebote. | |
| Die Assperg-Menschen werden distanziert analysiert, sie sind in ihrer | |
| Gesamtheit zu verachten. Kein Bussi-Bussi nach Feierabend. Eine der | |
| Schlüsselszenen ist die „Freistellung“ des altgedienten Assperg-Managers | |
| Thewe: „Was haben wir ihm geboten? fragte Assperg. – Einen Tag Zeit sich | |
| daran zu gewöhnen, antwortete Holtrop.“ | |
| Aber auch mit dem gefeuerten Thewe ist literarisch kein Mitleid angebracht, | |
| ist er doch Resultat und nicht Opfer einer eigenen, lebenslang betriebenen | |
| Unsinnigkeit, auch körperlich ganz und gar davon gezeichnet: „sein sehr | |
| fetter Körper war mit den Jahren zwar nicht richtig fett geworden, aber | |
| doch weichlich in alle Richtungen auseinander gegangen.“ Ja, da hört bei | |
| der Kritik der Spaß aber auf, obwohl Goetz in unmittelbarer Nähe dieses | |
| Zitates dem fetten Trinker und verstorbenen Schauspieler-Anarchisten Helmut | |
| Qualtinger ein Denkmal setzt. | |
| Doch auch nach Krölpa, der DDR-Ruine, der Dying City, der Kloake mit dem | |
| Ex-Obristenbürgermeister, wo Holtrop, so er nicht selber spricht, sich | |
| fühlt wie vom „Trotteltext gefoltert und zu Tode gequatscht“, schmuggelt | |
| Goetz komische Dinge, die erst ein „Freigestellter“ in der Kantine sehen | |
| kann: „Auf der Tasse stand in Französisch: encore un jour/sans amour, | |
| encore un jour/de ma vie“. | |
| ## Keine Versöhnung mit dem System | |
| Zu spät für Thewe, das Leben ist kein Chanson, und die Versöhnung mit den | |
| im System Gescheiterten wäre für Goetz der pure Kitsch. An anderer Stelle | |
| lässt er den Subalternen Wonka von den „Schweinen des Kapitals“ quasseln | |
| und kritisiert sogleich dessen vorgefertigte „Rede aus der organisierten | |
| Arbeitnehmerfolklore“. No WASG und kein Lafontaine today. | |
| Goetz’ Haltung neigt philosophisch zur bohemistischen Unerbittlichkeit, | |
| etwa zu Filmen wie Godards „Week End“, Faraldos „Themrock“ oder Vinterb… | |
| „Das Fest“. Das Faktische sollte man in dem Roman also nicht zu ernst | |
| nehmen, auch wenn Ausdeutungen Spaß bereiten. | |
| Die ambivalente Nähe zwischen denen, die die Macht ausüben, und jenen, die | |
| sie kontrollieren, wird am Beispiel der jungen Journalistin Zegna | |
| demonstriert, die sich in einer amüsanten Szene mit Holtrop auf den besten | |
| Seitenplätzen der Berliner Paris Bar und einer Flasche „Brenzinger Lafitte | |
| Spider, Jahrgang 98“ wiederfindet – und dort das „irre Geplapper“ Holtr… | |
| erkundet. | |
| Wo die berühmte Paris Bar, da auch andere „innerlich enthemmte Ichidoten“ | |
| nicht weit. Der Maler „Prütt“ und sein Berliner Galerist „Rommel“ tauc… | |
| auf. Wer in Rommel und Prütt den Galeristen Bruno Brunnet und den Maler | |
| Daniel Richter zu erkennen vermag, wird vor Lachen auf dem Boden liegen. | |
| Knoblauchgarspagio. Das auch, obwohl Goetz völlig willkürlich die | |
| Prütt-Malerei runtermacht. | |
| Aber so ist das in der Thomas-Bernhard’schen Konzeptwelt des Rainald Goetz: | |
| Er schont nicht die, unter denen er sich bewegt, und auch nicht sich | |
| selbst. Der Streit um die richtige Haltung ist immer dabei. „Der Wahn des | |
| Geldes war weltlos und menschenleer“. „Johann Holtrop“, welch großer Gew… | |
| für die Literatur. | |
| 12 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
| Andreas Fanizadeh | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Rainald Goetz | |
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