| # taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2012: Ode an die guten Leser | |
| > Mag sein, dass im Zeitalter des Internets jeder ein Autor ist, doch | |
| > leider sind viele keine guten Leser. Was macht einen guten Leser aus? | |
| Bild: ... anstatt sich von dem, was man liest, nur die eigenen Vorurteile best�… | |
| Schwer zu sagen, woher jetzt schon wieder die Vorfreude kommt. Ich erinnere | |
| noch den Schock, als ich vor zwanzig Jahren zum ersten Mal auf der | |
| Frankfurter Buchmesse war (nächste Woche findet sie wieder statt, ich packe | |
| gerade den Koffer). Hier soll es ums Lesen gehen? Bei diesem Trubel? | |
| „Da wird gar viel gegessen und getrunken, geliebt und kokettiert, gelacht | |
| und geweint, geraucht, betrogen, geprügelt, getanzt und gefidelt“, wie es | |
| in Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeit“ heißt, und das wird auf der Messe | |
| tatsächlich alles; geraucht wird allerdings inzwischen nicht mehr in | |
| geschlossenen Räumen. | |
| Aber wird da auch gelesen? Das geht doch gar nicht! Das geht wirklich | |
| nicht. Und selbst sich etwas vorlesen zu lassen geht nicht wirklich gut. Zu | |
| viel Ablenkung. Zu viel Husch-Husch zum nächsten Event. | |
| Aber womit man sich halt in Frankfurt alljährlich aufladen kann, das ist | |
| die Einsicht, wie viel Macht diese Idee hat: lesen. Wie viele Menschen da | |
| sind! Wie viel Interesse an Büchern da ist! Man hat sich angewöhnt, Lesen | |
| als eine bedrohte Kulturtechnik zu betrachten. Aber in Frankfurt bekommt | |
| man einen anderen Eindruck. Die symbolischen Formen mögen sich ändern, auch | |
| die Strukturen des Marktes, die Protagonisten, Vertriebswege und | |
| Covermoden, aber ein interessiertes Publikum ist weiterhin da. Es gibt | |
| viele Leser. Das ist die Erfahrung, die man in Frankfurt machen kann. | |
| ## Das Internet macht viele Menschen zu Autoren | |
| Der größte Veränderer ist zur Zeit natürlich das Internet. Aber vielleicht | |
| betreffen diese Veränderungen mehr noch das Schreiben von Texten als das | |
| Lesen. Das Internet hat jetzt viele Menschen zu Autoren gemacht, in Blogs, | |
| Kommentaren und sozialen Netzwerken – doch leider sind viele von ihnen noch | |
| keine guten Leser. Die zu kommentierenden Texte und die Posts der anderen | |
| nehmen sie nur als Anlass wahr, selbst etwas loszuwerden. | |
| Im Grunde ist dagegen ja auch wenig zu sagen, so wenig, wie dagegen etwas | |
| zu sagen ist, Fußballspiele zu nutzen, um sich verbal abzureagieren. Nur | |
| dass die Texte, die dabei herauskommen, oft ein bisschen langweilig sind. | |
| Und dass das schlechtes Lesen ist: wenn man sich von dem, was man liest, | |
| nur die eigenen Vorurteile bestätigen lässt. Es existieren keine | |
| Diskursschranken mehr, jedermann kann etwas Richtiges und Interessantes | |
| sagen. Das ist gut so. Nur kann man im Vorfeld einer Buchmesse durchaus | |
| anmerken, dass es nun noch gilt, den zweiten Schritt zu machen. | |
| Er hat damit zu tun, dass die guten Autoren nun mal Menschen sind, die, | |
| bevor sie schreiben, gut gelesen haben: die aktuelle Situation, das | |
| Material, die Texte der anderen, ihre eigenen Ideen. Das gilt für Bücher | |
| wie für Zeitungen und auch fürs Netz. Alle Menschen zu Autoren machen, | |
| nicht nur zu Empfängern, das ist eine große, aufklärerische Verheißung | |
| (Kants Befreiung von der selbst verschuldeten Unmündigkeit, Brechts | |
| Radiotheorie). | |
| ## „Schreiben heißt sich selbst lesen“ | |
| Jetzt, da das Internet die Möglichkeit dazu entscheidend erweitert hat, | |
| sollte man noch ergänzen, dass, um ein guter Autor zu sein, nicht nur das | |
| Haben einer Meinung und eine kräftige Sprache gehören, sondern eben auch | |
| ein guter Leser zu sein. Wie sagte Max Frisch: Schreiben heißt sich selbst | |
| lesen. | |
| In einigen Sachbüchern wird unkonzentriertes Lesen derzeit als technischer | |
| Kollateralschaden beschrieben, als zwänge uns die Digitalisierung dazu, als | |
| simple Reiz-Reaktions-Maschinen zu funktionieren. Doch man muss daran nicht | |
| glauben, außerdem verführt es zur Faulheit, sich mit schlechtem Lesen | |
| abzufinden. | |
| Es ist an der Zeit, das Bild des Lesers oder der Leserin aufzuwerten. | |
| Manches daran ist bis heute noch von zu viel klammheimlichem | |
| Bildungsballast besetzt. Als müsse man immer noch vor den Klassikern und | |
| Neugenies in die Knie gehen (und dann jedes Mal enttäuscht sein, wenn das | |
| nicht mehr klappen will). Oder als würde der Leser sich am liebsten wie | |
| Benjamin Balthasar Bux in der „Unendlichen Geschichte“ willenlos in das | |
| Buch hineinsaugen lassen. | |
| ## Der Leser: ein bedürftiges, passives Wesen? | |
| Beide Bilder sind immer noch präsenter, als man zunächst denkt, und sie | |
| zeichnen den Leser als bedürftiges, passives Wesen. Kein Wunder, dass viele | |
| Internet-User auf die Idee kommen, dieser Bedürftigkeit durch schieres | |
| Autorensein entkommen zu können. Dabei wäre es doch zunächst einmal | |
| wichtig, die Minderwertigkeitskomplexe als Leser abzulegen. | |
| Ein selbstbewusster Leser wird dagegen Lesen als aktiven Vorgang begreifen, | |
| als Fertigkonstruieren der von dem jeweiligen Buch angebotenen Eigenwelt. | |
| Sein Vertrauen in diese Eigenwelt wird er als eine Art selbst produzierten | |
| Vorschuss begreifen – Colderidges berühmte Formel von der „willing | |
| suspension of disbelief“, der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit –, | |
| die er als Leser selbstverständlich und jederzeit wieder kassieren kann. | |
| Er wird es als bereichernder empfinden, seine eigenen Meinungen von einem | |
| Buch auch einmal infrage gestellt zu sehen, als sich in jeden | |
| vordergründigen Meinungskampf zu stürzen. Er wird Lektüren, die sowieso nur | |
| auf Meinung zielen, vielleicht sogar auf Dauer als defizitär empfinden. Er | |
| wird Autoren, die selbst keine guten Leser sind, uninteressant und auch ein | |
| bisschen merkwürdig selbstbezüglich finden – egal in welchem Medium sie nun | |
| schreiben. Und er wird wissen, dass das immer wieder ebenso sehr | |
| Bereicherung wie Herausforderung ist: ein guter Leser zu sein. | |
| 7 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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