| # taz.de -- Neue Bücher zur Buchmesse: Etwas Besseres als den Tod | |
| > Die Reporterin Katherine Boo hat drei Jahre in Mumbai im Slum Annawadi | |
| > gelebt. Ihre Erlebnisse hat sie zu einer großartigen Reportage | |
| > aufgeschrieben. | |
| Bild: Von den 500.000 Menschen, die jedes Jahr nach Mumbai ziehen, landen die a… | |
| Es ist etwas sehr Eigenes mit den Slums von Mumbai; sie kommen einem sehr | |
| nah. Direkt neben den Luxushotels, in denen man als Europäer absteigt, kann | |
| es Grundstücke mit windschiefen Hütten geben, in denen ein Dutzend Menschen | |
| auf ebenso vielen Quadratmetern leben. Und bei Stadtspaziergängen stößt man | |
| ständig auf Ecken, in denen, eng zusammengedrängt, Hunderte von Menschen | |
| ohne Wasseranschluss schlafen, Essen kochen, Kinder versorgen; in den | |
| Bordsteinen quieken dazu die Ratten. Etwa 500.000 Menschen kommen derzeit | |
| jedes Jahr aus ganz Indien nach Mumbai. Die allermeisten landen auf der | |
| Straße. | |
| Als Europäer auf Besuch guckt man sich das an, und manchmal dreht sich | |
| einem vor Empörung und Mitleid der Magen um (was einen später aber auch | |
| nicht davon abhält, den Luxus und die Schönheiten Mumbais zu genießen). | |
| Aber da ist noch etwas. Es schaudert einen, wenn man in diese | |
| Lebenssituation guckt. Es ist einem unheimlich. | |
| Das Unheimliche ist, nach Sigmund Freud, das Heimliche – im Sinne von: das | |
| Heimatliche, das, in dem man früher zu Hause war –, das eine Verdrängung | |
| erfuhr. Vielleicht ist es wirklich das. Man erschaudert nicht nur, weil | |
| einem der Zufall bewusst wird, im reichen Mitteleuropa geboren worden zu | |
| sein. Sondern auch, weil der Anblick dieser Slums Bilder wachruft, die tief | |
| in einem drin noch angelegt sind – kulturell tradierte Bilder der Zustände, | |
| aus denen sich unsere Vorfahren erst mühsam herausgearbeitet haben. | |
| In Mittelalterfilmen und in Märchen haben sie Eingang gefunden. Richtiger | |
| Hunger. Böse Mütter. Schutzlosigkeit vor Räubern. Kinder, die mit heißem | |
| Wasser überbrüht werden. In den Slums gibt es das alles ja wirklich. Und | |
| korrupte Polizisten können wie furchterregende Riesen wirken. | |
| Das mit den überbrühten Kindern und den Polizistenriesen habe ich schon aus | |
| Katherine Boos Buch „Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben“. | |
| Katherine Boo, eine amerikanische Reporterin, hat fast drei Jahre lang in | |
| Annawadi, einem Mumbaier Slum in Flughafennähe, das gemacht, was man | |
| teilnehmende Beobachtung nennt. Sie hat mit den Menschen von Annawadi | |
| zusammengelebt, hingehört, Schlüsse gezogen und recherchiert, und dann hat | |
| sie die Geschichten einiger dieser Menschen aufgeschrieben. | |
| ## Zufällig ertrunken | |
| Etwa die von dem zweijährigen Mädchen, das keiner wollte und das plötzlich | |
| wie zufällig in einem Eimer Wasser ertrank. Oder die von dem Kind, das | |
| tatsächlich, ohne tieferen Grund, einfach aus Alltagsstress heraus, mit | |
| kochender Linsensuppe überbrüht wurde. Man fühlt sich manchmal wirklich in | |
| eine böse Märchenwelt versetzt. | |
| Aber es sind gar nicht diese alltäglichen Horrorgeschichten, die am meisten | |
| an diesem Buch wirken. Oft liest man Sätze voller unterdrückter Wut. Etwa | |
| die kühl hingeschriebene Bemerkung „Manche Autofahrer hielten sich nicht | |
| groß mit Ausweichmanövern auf, wenn Müllsammler am Straßenrand | |
| herumstöberten“ in einer Szene, in der ein angefahrener Müllsammler mit | |
| zerquetschtem Bein am Straßenrand verblutet. Aber immer versucht Katherine | |
| Boo dann genau zu verstehen, was da vor sich ging. | |
| In dieser Szene etwa schildert sie, warum niemand die Polizei oder einen | |
| Krankenwagen rief. Der erste Passant traut sich nicht, zur Polizei zu | |
| gehen, weil er, als er kurz zuvor in einem anderen Fall helfen wollte, | |
| schlimme Erfahrungen mit ihr gemacht hat. Der zweite hielt den Müllsammler | |
| nur für sturzbetrunken. Der dritte musste unbedingt den Schulbus kriegen. | |
| Die vierte hatte selbst einen sterbenden Ehemann im Krankenhaus zu | |
| versorgen. Und als der Müllsammler dann gestorben und in die Pathologie | |
| gebracht worden ist, wird er schnell eingeäschert, und es wird der | |
| Einfachheit halber TBC als Todesursache auf dem Totenschein eingetragen, | |
| weil mit einer Untersuchung, was wirklich geschehen ist, niemand einen | |
| Profit machen kann. | |
| Und einen Nebenprofit müssen sie alle machen, die Ärzte, Polizisten, | |
| Richter und Lokalpolitiker. Schließlich hat jeder eine Familie zu | |
| versorgen. | |
| Aus einer solchen Mischung aus unglücklichen Umständen, der | |
| Überlebensnotwendigkeit, dass jeder sich erst einmal um sich selbst | |
| kümmert, sowie allgemeiner, tief in den Alltag eingesenkter Korruption | |
| erklärt Katherine Boo die unmenschlichsten Situationen. Hinzu kommt | |
| Sozialneid, der innerhalb des Slums ungebremst wirkt. Denn natürlich gibt | |
| es auch in so einer armseligen Hüttensiedlung, die, mit westlichen Augen | |
| gesehen, erst einmal homogen heruntergekommen aussieht, feine Unterschiede. | |
| Jemand mit einem Holzverschlag ist besser dran als jemand, der direkt in | |
| der Gosse schläft; jemand, der eine Kochgelegenheit hat, noch besser. Dann | |
| gibt es Aufstiegsmöglichkeiten und Sozialdruck, gute und schlechte Stellen | |
| zum Müllsammeln, und einen Job als Latrinenputzer zu kriegen (auch dazu | |
| muss man die richtigen Stellen schmieren) ist eine Erfolgsstory. | |
| ## Soziale Struktur des Slums | |
| Katherine Boo gelingt es (so wie es David Simon in „The Wire“ bei den | |
| schwarzen Projects von Baltimore gelungen ist), die innere soziale Struktur | |
| von Annawadi aufzublättern. Anhand individueller Schicksale schildert sie | |
| Überlebenstechniken. Da sie manche ihrer Figuren in Krankhäuser, Schulen, | |
| Gefängnisse und beim Müllsammeln in den Flughafen begleitet, erhält man | |
| nebenbei einen Abriss der indischen Gesellschaft. | |
| Und als man sich gerade fragt, warum so viele Menschen sich das antun und | |
| nach Mumbai ziehen, schildert Katherine Boo die Verhältnisse auf dem Land. | |
| Sie sind noch schlimmer, und hier gibt es noch nicht einmal | |
| Aufstiegsmöglichkeiten. Wie heißt es bei den Bremer Stadtmusikanten? Etwas | |
| Besseres als den Tod findest du überall. | |
| Also ziehen die Menschen in die Stadt. „Annawadi“ ist eine großartige | |
| Reportage; in einem Nachwort gibt Katherine Boo darüber Auskunft, wie sie | |
| sich so genau in die Verhältnisse einarbeiten konnte. Darüber hinaus | |
| erfüllt das Buch auch genuin literarische Bedürfnisse. Man möchte ja nicht | |
| fremd vor den Schrecken der Welt stehen. Man möchte glaubwürdige | |
| Geschichten haben, lebendige Figuren, Namen, Gesichter, mit denen man das | |
| einordnen kann. | |
| Die Geschichten von Ahmed und Sunil, den beiden jungen Müllsammlern, deren | |
| Schicksal Katerine Boo verfolgt, werden einem bleiben. Das Buch trägt dazu | |
| bei, sich die Geschichten von der Globalisierung und der Entwicklung der | |
| Welt nicht mit politischen Allgemeinbegriffen, sondern im Konkreten etwas | |
| genauer zu erzählen. | |
| Sunil findet ganz am Schluss, auch so ein Märchenmotiv, einen Schatz: elf | |
| Blechdosen, sieben leere Wasserflaschen und eine zusammengeknüllte | |
| Alufolie, die Taxifahrer an ihrem Wartestand hinter eine Betonwand warfen. | |
| 10 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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