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# taz.de -- Neuer Roman von Ulf Erdmann Ziegler: Abgründe des Innenlebens
> Der neue Roman von Ulf Erdmann Ziegler gleitet unmerklich vom Harmlosen
> ins Unheimliche. „Es gibt kein Zurück“ ist spannend erzählt.
Bild: „Es gibt kein Zurück“: mit dem Motorrad unterwegs nach Südfrankreich
Ulf Erdmann Zieglers neuer Roman „Es gibt kein Zurück“ baut eine
literarische Versuchsanordnung auf, die er bei Adalbert Stifter studiert
haben könnte: Eine leicht und durchsichtig gewebte längere Sommernovelle
bewegt sich langsam und hinterrücks ins Finstere hinein.
Ein Berliner Essayist, beruflich damit bekannt geworden, seine
zeitkritischen Interventionen im Radio einzusprechen, sieht seiner
Pensionierung bei erschreckend geringfügigen Ruhestandsbezügen entgegen und
beschließt, eine Autobiografie in Angriff zu nehmen. Die Praktikantin
seiner Agentur berät ihn bei diesem Unternehmen telefonisch über den
Abgrund der Generationen hinweg; und das zwar kritisch, aber auch
erstaunlich einsichtig, vorurteilsarm und reflektiert.
Statt sich jedoch an den heimischen Schreibtisch zu setzen, kauft er sich
zunächst einmal ein Motorrad, lässt Hund und Gattin zu Haus und fährt über
Paris nach Südfrankreich, begleitet von Telefongesprächen mit jener
Agenturpraktikantin und seinen eigenen Erinnerungen. Das Berlin der
Jahrzehnte vor der Vereinigung taucht auf in seinen Reflexionen und
Reminiszenzen; seine Hippiemutter und eine unstete Kindheit als Begleiter
ihrer Irrfahrten; ein langer Irlandaufenthalt; erotische Episoden aus den
siebziger Jahren; die Coronakrise; der [1][Untergang des „Kulturradios“;]
die politische Sprachlosigkeit der deutschen zwanziger Jahre – Freunde,
Atmosphären, Theoriefragmente, Illusionen und Enttäuschungen der „Jahre,
die ihr kennt“.
## Stilistische Virtuosität
Und am französischen Mittelmeer schließlich stößt ihm und uns eine
Überraschung zu, die Zieglers Held nicht überlebt: eine „unerhörte
Begebenheit“– wie es sich für das Novellenhafte gehört –, aber eine, die
aus dem Innenleben kommt; aus den seelischen Abgründen eines Mannes, der
offenbar selber nicht gewusst hat, wie verzweifelt er ist (wir jedenfalls
wussten es nicht und konnten es, wenn wir das Erzählte zugrunde legten,
auch nur ahnen).
All das ist spannend und mit jener an Stifter geschulten
unmerklich-unheimlichen Gleitbewegung vom harmlos Heiteren zum finster
Tragischen erzählt. Und auch in diesem Buch beeindruckt die tiefenscharf
durchdachte und in jeder Formulierung sozusagen noch einmal auf Hochglanz
polierte stilistische Virtuosität, für die (unter anderem) Ziegler
[2][bekannt geworden ist] und zu Recht geschätzt wird: „Bald fand er
heraus, wie man aus einem langen Satz einen Bogen schnitzt und mit einem
einzigen Wort den Pfeil abschießt“; „Sie musste im Fränkischen aufgewachs…
sein; das R stand heraus wie ein Knorpel“.
Von dem sogenannten „Bilanzselbstmord“ der Hauptfigur her gesehen ist das
nostalgisch-spätsommerlich besonnte Road-Movie, als das Zieglers Buch
scheinbar begonnen hatte, als Abschussrampe der Erzählung in Dunkel, Tod,
Vergeblichkeit und Grauen schockartig erkennbar geworden.
## Fast perfekter Roman
Wenn an diesem fast perfekten Roman etwas problematisch zu nennen wäre,
dann der sich beim Lesen zunehmend verfestigende Eindruck, dass die
gewichtigen Themen, die einen Menschen hier erdrückt zu haben scheinen,
eine für seine novellistische Konstruktion oft zu große spezifische Schwere
haben. Sie können in ihrem Rahmen immer nur angespielt, nie aber
sachgerecht durchdekliniert werden, was den Reflexionen und Erinnerungen
des personalen Erzählmediums einen im problematischen Sinn „essayistischen“
Zug verleiht (der als Charakterisierung der zentralen Figur andererseits
auch wieder einleuchten könnte).
Man wird das Thema dieses Buchs wahrscheinlich am treffendsten mit dem Satz
zusammenfassen, dass es für einen intelligenten und problembewussten
Menschen möglicherweise nie schwerer gewesen ist, [3][alt zu werden,] als
im ersten Viertel unseres Jahrhunderts. Ulf Erdmann Zieglers toter Essayist
heißt Aldus Wieland Mumme. Die Seltsamkeit dieser Namensgebung erklärt sich
vielleicht als Anfangsbuchstaben-Verrätselung jenes „alten weißen Mannes“,
von dem in diesen Jahren oft – und meist in tatsächlich schwer
nachvollziehbarer Verächtlichkeit – die Rede gegangen ist.
21 Jun 2025
## LINKS
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[2] /Neuer-Roman-von-Ulf-Erdmann-Ziegler/!5803200
[3] /Emanzipation-des-Alterns/!5051781
## AUTOREN
Stephan Wackwitz
## TAGS
Literatur
Schriftsteller
Altersarmut
Motorrad
Mittelmeer
Radio
Roman
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