| # taz.de -- London in den 80ern: Wie Oliver Hoelzle die Welt sieht | |
| > Zu gut geschmiert: Ulf Erdmann Ziegler lässt, handwerklich versiert, | |
| > seinen Erzähler schwadronierend durch das England der Achtziger | |
| > schlendern. | |
| Bild: Bevor Großbritannien cool und London gentrifiziert wurde: Piccadilly Cir… | |
| Der Schluss ist erschütternd, das sei zugestanden. Er trifft den Leser mit | |
| voller Wucht, und Orlando kommt endlich zu seinem Recht. Er erhält die | |
| Aufmerksamkeit, die der Titel von vornherein verspricht. | |
| Dass dies erst nach seinem Tod geschieht, sagt viel über Ulf Erdmann | |
| Zieglers Roman. Dessen Erzähler, Oliver Hoelzle, deutscher (schwäbischer!) | |
| Betriebswirt in London mit cineastischer und überhaupt kultureller | |
| Kompetenz, kann nämlich nicht von sich absehen, obwohl er ständig vorgibt, | |
| von anderen zu erzählen. Wie alle Romanfiguren ist er ein Konstrukt, und | |
| dagegen ist nichts einzuwenden, so wenig wie dagegen, dass Zieglers Plot | |
| stellenweise ebenfalls kühne Konstruktionen braucht, um in die gewünschte | |
| Richtung laufen zu können. | |
| Romane sind so, sie brauchen ihre Scharniere, in denen es zuweilen | |
| knirscht: den kleinen Autounfall etwa, bei dem man seine künftige Frau | |
| kennen lernt, oder die beiden Kommilitonen im betriebswirtschaftlichen | |
| Studium, die den notorischen Nichtkinogänger Hoelzle mir nichts, dir nichts | |
| zum Cineasten machen und damit die Weichen für seine weitere berufliche | |
| Laufbahn stellen. „Das richtige Leben“, könnte jeder Romancier | |
| dagegenhalten, „treibt es da mit den Zufällen noch viel toller“, und damit | |
| hätte er recht. | |
| Die Scharniere knirschen bei Ziegler auch nicht zu laut, und sie sind es | |
| nicht, die seinen Roman scheitern lassen. Es ist im Gegenteil die Glätte | |
| der Handlungsführung und des Erzählgestus. Alles läuft wie geschmiert. Das | |
| Leben und die Zufälle treiben Zieglers Erzähler ins London der achtziger | |
| Jahre, wo er für einen künstlerisch angehauchten Filmverleih namens | |
| Turnstyle Movies als Buchhalter arbeitet. | |
| ## Er brilliert mit seinen Erkenntnissen | |
| Es ist überwiegend Arthouse-Kino, das hier vertrieben wird. Zieglers | |
| Erzähltechnik, handwerklich sehr versiert, reiht nun eine ganze Reihe von | |
| Filmstills aneinander und hat im Handumdrehen das Thatcher-England und das | |
| folgende Jahrzehnt aufgebaut. Der Autor weiß, welche Versatzstücke er aus | |
| dem Kasten nehmen muss, um ein entsprechendes Zeitbild aufzurufen. Und sein | |
| cineastischer Betriebswirt, anfangs noch fast ein tumber Tor, weiß bald, | |
| was im Reich der Zeichen alles im Einzelnen so bedeutet. | |
| Er brilliert mit seinen Erkenntnissen, wobei Sätze herauskommen wie: „Mir | |
| kommt es so vor, dass die meisten Menschen schneller reden, als sie denken“ | |
| oder ein lustiges Bonmot über seine spätere Frau Barbara, eine Engländerin: | |
| „Nicht, dass ihr ’Mister Hoelzle‘ nicht über die Lippen gekommen wäre. | |
| Kunsthistorikerinnen können fast alles aussprechen, jedenfalls wenn es | |
| europäisch ist.“ | |
| So geht das über weite Strecken des Romans. Denn wenn Hoelzle auch von | |
| vielen Leuten erzählt, die im Kopf zu behalten und einzuordnen nicht immer | |
| einfach ist, interessiert er sich letztendlich vor allem für sich selbst, | |
| während alle anderen blass bleiben. Mit dem eventuellen Verweis auf | |
| Rollenprosa lässt sich das nicht rechtfertigen. | |
| Bald lernt Hoelzle Orlando kennen, der nebenan bei einem Musiklabel | |
| arbeitet, das mit Turnstyle verbunden ist. Orlando ist um einiges jünger | |
| als Oliver; er hat einen Bruder, der auf den Tag genau ein Jahr älter ist | |
| als er, weswegen man den beiden lange Zeit erzählt, sie seien Zwillinge. | |
| Orlando ist schwarz, hat jüdische Vorfahren aus Wien (!), ist reichlich | |
| androgyn und überaus brillant, beinahe hochbegabt. Ob er seinen Namen von | |
| Virginia Woolf hat, wird nicht so recht klar. Jede Menge kulturell | |
| bedeutsamer Zeichen jedenfalls. Mit diesem Orlando zieht Oliver Hoelzle | |
| also abends nach Feierabend durch die Londoner Pubs und Clubs, und wir | |
| erfahren Orlandos Geschichte. | |
| ## In Zeitrafferpassagen | |
| Nein, tun wir nicht. Denn Orlando ist in Zieglers Konstruktion fast nur | |
| Zuhörer, und es geht um Oliver Hoelzle, und wie er die Welt sieht. Zwar | |
| wird über den neuen Freund erzählt, meistens in Zeitrafferpassagen, die ein | |
| paar Jahrzehnte Familiengeschichte auf wenigen Seiten resümieren, aber | |
| selbst kommt der schwarze, androgyne Londoner Jude kaum zu Wort. | |
| Die wechselnden Schauplätze, angesagt oder abgefuckt, an denen sich die | |
| beiden angeblich gegenseitig ihre Geschichte erzählen, sind dabei nur | |
| Bilderrahmen. Und die einfachsten Vorgänge müssen bedeutungsschwanger | |
| aufgeladen werden. „Ich wartete auf dem Bahndamm von Highbury & Islington | |
| auf einen Zug, der von Westen kam und aus dessen erstem Waggon sich Orlando | |
| winkend melden sollte, was er dann auch tat.“ Herrgott noch mal, warum kann | |
| er nicht einfach schreiben: „Ich holte Orlando an der Station Highbury & | |
| Islington ab“? | |
| Natürlich muss ich mich als Leser nicht menschlich interessieren für | |
| Figuren in einem Roman, der vorrangig ein durch kulturelle Codes | |
| bezeichnetes gesellschaftliches Zeitpanorama vorführen möchte und in dem | |
| die einzelnen Personen vor allem für etwas stehen. Ich muss mich nicht | |
| identifizieren können. Aber interessant genug, damit ich gern weiterlese, | |
| sollten wenigstens die Protagonisten schon sein. Von der Figur des | |
| Erzählers kann man das aber nicht sagen, und Orlando könnte schon | |
| interessant sein, hat aber keine Chance. | |
| Selbstverständlich gibt es in den raumgreifenden essayistischen Passagen | |
| dieses Buchs hübsche und kluge Beobachtungen, etwa über die Art und Weise, | |
| wie der Mittelstand seine Kinder liebt. Öfter aber bewegen sich die | |
| Erkenntnisse auf dem Niveau des Bonmots. Dasjenige, das am schwersten | |
| erträglich ist, wird ausgerechnet dem armen Orlando in den Mund gelegt: | |
| „Mir scheint […], die Welt ist so eine Art Fleischwolf. Egal, was man oben | |
| reintut, unten kommt immer Woody Allen raus.“ Da ist „die Welt“ Zieglers | |
| Roman allemal vorzuziehen. Aus dem Fleischwolf dieses Buchs kommt meistens | |
| Oliver Hoelzle raus. | |
| 16 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jochen Schimmang | |
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