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# taz.de -- Schlagloch Bevölkerungsverteilung: Die Arbeitsgäule von heute
> Im Londoner East End leben Kinder im Schnitt 20 Jahre kürzer als in der
> City. Auffälliger als die Armut sind hier die Zeichen muslimischer
> Identität.
Bild: Das „gift horse“ am Trafalgar Square, entworfen von Hans Haacke.
Am Trafalgar Square, jenem Platz in London, wo das verblichene Empire am
ehesten einstige Größe simulieren kann, erheben sich vier Sockel. Auf drei
von ihnen stehen bronzene Männer der Macht, zwei Generäle sowie ein König
(George IV.), auf dem vierten, dem berühmt-berüchtigten Forth Plinth,
findet sich ein Pferdegerippe des deutschen Künstlers Hans Haacke. Drei der
Sockel sind der Kontinuität gewidmet, der vierte hingegen der
Vergänglichkeit, repräsentiert durch wechselnde Kunstobjekte. Das
Pferdegerippe sieht so aus, wie man sich als Dilettant der Skelettkunde ein
Pferdegerippe vorstellt, wäre nicht eine Schleife um das linke Vorderbein
gebunden, über die merkwürdigerweise Börsenkurse laufen.
Bei der Enthüllung des Kunstwerks letzten Donnerstag erklärte der nie um
ein Schlagwort verlegene Bürgermeister der Stadt, Boris Johnson, das Pferd
kurzen Hufes zum „Ur-Pferd“. Diese Skulptur verweise auf den Arbeitsgaul,
der „viele Jahrhunderte wichtiger Teil der Transportinfrastruktur dieser
Stadt“ war. Ein Zugpferd somit, früher im Arbeitseinsatz, heute als
Kunstwerk.
Die Zahl der Gäule hatte in England ihren Höhepunkt im Jahre 1901, also
lange nach dem Einsetzen der industriellen Revolution, als sage und
schreibe 3,25 Millionen Tiere eingespannt waren. Doch die Einführung des
Verbrennungsmotors machte sie überflüssig. 1924 waren es nur noch 2
Millionen. Der „Lohn“, der für ihre Dienste gezahlt wurde, sank so sehr, er
reichte eines Tages nicht einmal mehr für das Futter.
Die zwei Generäle nahe dem eleganten Skelett, Sir Henry Havelock und
Charles Napier, richteten Mitte des 19. Jahrhunderts Massaker in Indien
beziehungsweise im heutigen Pakistan an, zu einer Zeit, da das Wort
Kriegsverbrechen noch nicht existierte. Ob sie die Ironie der Geschichte zu
schätzen wüssten? Nämlich dass heute die Nachfahren der einst von ihnen
unterjochten Völker nur wenige Meilen von Trafalgar Square entfernt das
Stadtbild dominieren, im East End, das zwar inzwischen auch gentrifizierte
Ecken aufweist, ansonsten aber weiterhin Auffangbecken des eingewanderten
Prekariats ist, mit anderen Worten: Heimat für die Arbeitsgäule von heute.
## Die Armut im East End
Fährt man von Westminster nach Osten (durch die City, wo die Börsenkurse
generiert werden), so sinkt die Lebenserwartung um ein Jahr pro
U-Bahn-Haltestelle. Kinder, die in den ärmsten der östlichen Stadtteile
geboren sind, haben laut jüngst veröffentlichten Daten des Office for
National Statistics eine um fast zwanzig Jahre niedrigere Lebenserwartung
als jene im wohlhabenderen Westen.
Sie werden nicht länger leben als die Menschen „im kriegszerstörten
Liberia“, so die Schlagzeile des jeden Nachmittag kostenlos verteilten
London Evening Standard. Rein äußerlich fallen einem Fremden jedoch
vielmehr die ostentativen Zeichen muslimischer Identität auf. Die
Ausbreitung rigider Kleidungskonventionen sticht eher ins Auge als die
Armut.
Dies ist eine Gegend, in der es nicht nur die üblichen kleinen, leicht zu
übersehenden Eingänge zu behelfsmäßigen Moscheen gibt, sondern auch die
stolze große East London Mosque, mit separaten Eingängen für Männer und
Frauen, was in England, wo immer noch viele Schulen (400 an der Zahl) nicht
koedukativ sind, vielleicht weniger provokant wirkt als bei uns.
Untersuchungen der Prüfungsergebnisse von 700.000 Mädchen aus den letzten
Jahren haben übrigens aufgezeigt, dass jene aus reinen Mädchenschulen nicht
nur akademisch besser abschnitten, sondern später im Beruf auch besser
verdienen.
Auf dem Campus des Queen Mary College der University of London haben
muslimische Studentinnen einen Stand vor der Bibliothek aufgebaut, um
Aufklärung über den von ihnen getragenen Hidschab zu leisten. Die
aufgestellten Plakate, die ausgelegten Flugblätter, der ausgeschenkte Tee
und die angebotenen, typischen englischen Kekse – all das sind
Versatzstückchen eines üblichen politischen Aktionismus. Eine Woche später
ist der Platz besetzt von Wahlplakaten. Die erste Kandidatin für das Amt
der Präsidentin der Studentenvertretung ist eine jener jungen Frauen, die
freundlich bestimmt um Verständnis für das Tragen des Hidschab warben.
## Kopftuch verhüllt Armut
Was sie wohl sagen würde über die wachsende Zahl von kleinen Mädchen, die
in diesem Viertel von ihren Eltern gezwungen werden, sich zu verhüllen? Im
roten Doppeldeckerbus sitzt ein höchstens sieben Jahre altes Kind mit
aufwendiger Kopfbedeckung. Offensichtlich ist es den Eltern wichtiger,
durch ihre Kinder ein Signal der Zugehörigkeit, vielleicht auch der
trotzigen Emphase zu setzen, als über den Sinn einer solchen Verschärfung
und Verfälschung uralter Traditionen nachzudenken.
Denn das Kopftuch soll weibliche Reize verhüllen, somit wird das Kind vor
der Zeit als Frau konnotiert, man könnte gar argumentieren, dass es dadurch
(ungewollt) sexualisiert wird, zumindest aber seine Unbeschwertheit Schaden
nimmt. Wer hierüber mit der Mutter des Mädchens diskutieren wollte, wird es
schwer haben, denn die Frau (hinter ihrer Tochter sitzend) spricht nur
Somalisch.
Die amtierende Abgeordnete für diesen Wahlkreis, die aus Bangladesch
stammende Rushanara Ali, hat als junge Frau für Familien wie diese an der
Errichtung der Language Line mitgearbeitet, einem landesweiten
telefonischen Übersetzungsdienst. Als Siebzehnjährige begann sie sich,
frustriert über die geringen Chancen für „Menschen, wie jene, mit denen ich
aufgewachsen bin“, zu engagieren. Inzwischen bietet sie Studentinnen und
Studenten ein Programm an, bei dem sie in einem zweiwöchigen Intensivkurs
Berufserfahrung erlangen können.
Rushanara Ali, eine eloquente, in Oxford ausgebildete Frau, Tochter eines
Hilfsarbeiters, die erste Akademikerin in ihrer Familie, ist mit der Armut
und der Radikalisierung im East End bestens vertraut. Sie galt als große
Hoffnung der Labour Party, bis letzten September, als sie im Parlament
gegen einen weiteren Militäreinsatz im Irak stimmte. Eskalation sei keine
Lösung sagte sie. Sie weiß, wovon sie spricht.
11 Mar 2015
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Lebenserwartung
Schwerpunkt Armut
Muslime
London
Schlagloch
Schwerpunkt Rassismus
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