# taz.de -- Ulf Erdmann Zieglers Roman „Nichts Weißes“: Lehrjahre einer Bu… | |
> In „Nichts Weißes“ erzählt Ulf Erdmann Ziegler ein typisches Leben in d… | |
> siebziger und achtziger Jahren. Wie nebenbei beschreibt er das Ende der | |
> Gutenberg-Galaxis. | |
Bild: U-Bahn in Paris: Die Stadt sei "eine Maschine" heißt es in dem Roman. | |
BERLIN taz | Der Magie von Orten und Namen – auch Ulf Erdmann Ziegler ist | |
ihr verfallen. In schönster Beiläufigkeit gibt er ein Bild von Schauplätzen | |
und Lebensstätten, in denen seine Figuren sich bewegen. Eine Architektur | |
des Denkens und Fühlens ist das. | |
In seinen beiden ersten literarischen Büchern „Hamburger Hochbahn“ und vor | |
allem in der „Autogeografie“ „Wilde Wiesen“ kommt man den Charakteren u… | |
dem Ich durch die Räume, in denen sie sich bewegen, nahe. Im neuen Roman | |
„Nichts Weißes“ gibt es ebenfalls solche topografischen Annäherungen: Mit | |
wenigen Worten schafft Ziegler Räume, Landkarten, Stadtpläne, die das | |
Innere kartografieren und den Weg durch die Gegenwart lenken. | |
Über Kassel heißt es da: „eine Stadt, deren freundliches Lächeln die | |
zweifelhafte Perfektion dritter Zähne blicken ließ, ein Biss ohne Nerven“. | |
Und über Paris: „Paris ist keine Stadt, sondern eine Maschine. Der Motor | |
brummt bei Tag und bei Nacht. Er betreibt den Stoffwechsel von Energien. | |
Entzogen werden Artigkeit, Bescheidenheit und Mamastoffe, zugeführt werden | |
Heldentropfen, Widerstandsbläschen, Egozucker. Wille und Wirklichkeit | |
spiegeln sich wie der Bizeps rechts und der Bizeps links.“ | |
Kassel und Paris sind zwei Orte, in die es Zieglers Heldin Marleen | |
verschlägt. Dazu kommt die Pomona, eine Neubausiedlung in Neuss, wo sich in | |
den sechziger Jahren junge, fortschrittliche Familien niedergelassen haben | |
und Marleen zusammen mit zwei Schwestern und einem kleineren Bruder | |
aufwächst. Orte sind Zeichen, die man lesen muss. Eine eigene Schrift, die | |
schon durch ihre Form Bedeutung generiert. Und um das Lesen von Schriften | |
im buchstäblichen Sinne geht es in Zieglers neuem Roman ganz | |
offensichtlich. | |
## Eine Schrift ohne Stil | |
Marleen, deren Mutter Kinderbücher illustriert und deren Vater der kreative | |
Kopf einer Werbeagentur ist, hat nämlich bereits als Kind in der Pomona | |
einen kühnen Traum: „Nicht einmal ihrer eigenen Mutter würde Marleen | |
gestehen, dass sie sich berufen fühlt, eine Schrift zu entwerfen, die alle | |
Vorzüge aller existierenden Schriften hat und alle Nachteile Buchstabe für | |
Buchstabe überwindet. […] Eine Schrift ohne Stil soll es sein, eine | |
Schrift, die man gar nicht bemerkt.“ | |
Marleen ist Legasthenikerin. Umso stärker scheint ihr Wunsch zu sein, sich | |
die Typen, die Lettern anzueignen. Die Schrift selbst ist für sie von | |
Anfang an nicht Mittel zum Zweck. Sondern vielmehr als Medium ein | |
vollkommenes Mittel der Erkenntnis und des Sichausdrückens. Der Schöpfer | |
einer Schrift kann hinter seinem Werk verschwinden. Er ist ein Künstler, | |
der, wenn er seine Sache gut macht und die größtmögliche Wirkung erzielt, | |
vergessen wird. Er schafft einen Gebrauchsgegenstand, dessen Eleganz und | |
Vollendetheit dann am größten ist, wenn man die Vollkommenheit nicht | |
wahrnimmt. Auch Marleen möchte auf gewisse Weise unsichtbar sein und | |
dennoch anwesend in der Welt. | |
Ziegler zeichnet eine nicht ganz untypische Lebensgeschichte und Jugend in | |
den siebziger und frühen achtziger Jahren nach: Eingerahmt von einer | |
älteren, frömmelnden und einer jüngeren, keckeren Schwester, verfolgt | |
Marleen ihre Ziele forsch. Und ist doch auch immer wieder auf eine | |
merkwürdige Weise verhalten, pragmatisch fast und sogar kühl. | |
Sie lässt sich zuweilen mitreißen von den Möglichkeiten, die ihr eröffnet | |
werden, ist begeistert von ihren ersten Schritten in die Berufswelt – sie | |
macht ein Praktikum bei einem Verleger und Buchgestalter in Nördlingen | |
namens Volpe, der die „Eigene Bibliothek“ produziert. Man kann dahinter | |
leicht den Buchgestalter der „Anderen Bibliothek“, Franz Greno, erkennen. | |
## Konvent der Schrift | |
Marleen stürzt sich in das Studium in Kassel, gerät in die | |
inneruniversitären Grabenkämpfe zwischen verschiedenen berühmten Lehrern, | |
durchläuft die üblichen Wohngemeinschaftsscharmützel jener Zeit, verliebt | |
sich in einen schwebenden Charakter namens Franziskus, der seinem Namen | |
dann auch alle Ehre macht und sich dem Glauben verschreibt – während | |
Marleen sich gern als „Buchstabenmönchin“ in einen anderen Konvent begeben | |
möchte: den der Schrift. | |
Tatsächlich spielt der Katholizismus in diesem Buch eine bestimmende Rolle, | |
auf verschiedenen Ebenen, als Rettungsstation für etwas haltlose Seelen und | |
in säkularisierter Form als Schriftgläubigkeit. In Marleens Fall hat diese | |
Hingabe an die Schrift etwas Asketisches – sie ist streng mit sich, streng | |
mit ihrer Arbeit. | |
Marleen möchte nicht nur die einzelnen Buchstaben verstehen, sondern gleich | |
das ganze Schriftsystem. Typografie ist für sie mehr als nur Handwerk, | |
bedeutet Zugang zum Verstehen selbst, ist das Medium schlechthin. | |
Ziegler fängt das universitäre, auch das katholisch geprägte | |
Herkunftsmilieu bravourös ein, jene Jahre der Unschlüssigkeit, die ja | |
zugleich stets solche der Unbedingtheit sind. Alles hat Bedeutung, und | |
nichts ist sonderlich auszurechnen oder klar. Ihm gelingt es, in | |
Rückblenden einen Blick auf jene Generation zu werfen, die einmal | |
hochtrabend die Welt umstürzen wollte und dann in Werbeagenturen oder auf | |
Selbstverwirklichungstrips in Indien endete. Es ist dabei erstaunlich, wie | |
wenig die Figuren zu Klischees verkommen, obwohl sie zum Teil durchaus | |
satirisches Potenzial hätten – nicht einmal der sich irgendwann nach Poona | |
verabschiedende Vater mit dem bezeichnenden Namen Petrus wird sonderlich | |
denunziert, wenn an der einen oder anderen Stelle auch in seiner Egozentrik | |
vorgeführt. | |
## Selbstgeschaffene Freiräume | |
Das Buch handelt untergründig von den Möglichkeiten und den Freiräumen, die | |
einem – nicht nur zur eigenen Freude – gewährt werden. Und die man sich | |
selber schaffen muss. Von den Weißräumen, die eine doch immer auch | |
determinierende Schrift lässt: Denn ebenso wie die Buchstaben selbst | |
definiert sich ein Schriftbild über die Abstände zwischen den Lettern, über | |
die Harmonie, die sich durch das Verhältnis von Typengröße und Auslassungen | |
ergibt. Auch dieser Roman spielt mit weißen Flächen, mit Leerstellen – das | |
Gesagte erhält dadurch ja erst den Raum, den es braucht. Für Marleen sind | |
die Erfahrungen mit der Schrift zugleich Lebenserkenntnis. Buchstaben | |
tendieren zum Lebendigen, heißt es einmal. Man muss sie begreifen und mit | |
ihnen geduldig arbeiten. | |
Marleen geht nach Paris, später in die USA, sie erfindet eine Schrift – | |
wenn auch keine, die sie sich zu Anfang vorgestellt hatte. Sie bekommt ein | |
Kind und führt ein Leben, das sie ebenfalls nicht vorausgesehen hat. Und | |
sie steht an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, das in diesem Roman | |
zwar nur am Horizont aufscheint, aber doch schon, weil wir Leser davon | |
wissen, das Erzählte merkwürdig fern und historisch erscheinen lässt. | |
Die Gutenberg-Galaxis kommt zum Ende des Romans ebenfalls an ihr Ende; in | |
Kalifornien wird munter an einer neuen digitalen Welt gebastelt, die alles | |
auf den Kopf stellen wird. Zwar denken Zieglers Figuren schon darüber nach, | |
wie es mit ihrer Profession weitergehen könnte. Aber fast rührend wirken | |
ihre Blicke in eine Zukunft, die sie sich nur im Ansatz ausmalen können und | |
in der wir heute längst schon angekommen sind. So ist dieser Roman auch ein | |
Abgesang, eine Reminiszenz. Marleen ahnt das. Sie verabschiedet sich auf | |
gewisse Weise gleichfalls von ihren Träumen – und hat am Ende einen langen | |
Weg hinter sich von der Pomona 133 bis nach New York. | |
Ulf Erdmann Ziegler dekliniert in seinen Büchern die Medien durch, mit | |
denen wir die Welt und das, was man Wirklichkeit nennt, wahrnehmen. Die | |
Medien, mit und in denen wir leben, ob Architektur, Fotografie, Schrift, | |
werden bei ihm zu lebensstrukturierenden Systemen. „Nichts Weißes“ ist ein | |
Roman, der sein großes Thema lässig, pointiert, klug und zuweilen auch | |
witzig in der Lebensgeschichte einer jungen Frau spiegelt. Man fragt sich | |
schließlich, wie es dieser Marleen wohl heute gehen mag – 20 Jahre später. | |
Der Roman gibt darauf keine Antwort. Vielleicht gestaltet sie Webseiten. | |
Und träumt ab und an noch von einer alten Druckerei, wo die „Eigene | |
Bibliothek“ weiterhin produziert wird, wie das Relikt aus einem längst | |
vergangenen, vielleicht auch untergegangenen Jahrhundert. | |
Ulf Erdmann Ziegler: „Nichts Weißes“. Suhrkamp, Berlin 2012, 260 Seiten. | |
19,95 Euro | |
22 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Rüdenauer | |
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