# taz.de -- Neuer Roman von Zeruya Shalev: Im Gefängnis der Kindheit | |
> Zeruya Shalevs Roman „Schicksal“ ist ein Familien- und Freiheitsdrama. | |
> Zugleich ist es eine Anklage gegen die Gewalt in der Geschichte Israels. | |
Bild: Erschütterung über Generationen: Kämpferinnen werden 1948 für die isr… | |
Von außen betrachtet scheint Atara ein halbwegs normales Leben in Israel zu | |
führen. Sie hat einen Job, der ihr Freude bereitet, und einen Mann, für den | |
sie einen anderen verlassen hat und den sie bei allem Alltagsstreit noch | |
immer liebt. Mit Alex und ihrem gemeinsamen Kind wohnt die fast | |
Fünfzigjährige in der Küstenstadt Haifa, wo sie sich auch gegen die | |
Umweltverschmutzung im Hafenbecken engagiert. | |
Von der Regierung hält sie wenig, gleichwohl ist sie stolz darauf, dass ihr | |
Sohn sich als Elitesoldat für die Sicherheit des Landes einsetzen möchte. | |
Alles nicht ungewöhnlich, könnte man meinen, dennoch ist nichts normal im | |
Leben Ataras. | |
„Schicksal“ heißt Zeruya Shalevs neuer Roman, und tatsächlich scheint in | |
dieser Geschichte nur wenig dem Zufall geschuldet zu sein. Die Geschehnisse | |
wirken im Rückblick als eine Verkettung nicht nur unglücklicher, sondern | |
auch zwangsläufiger Umstände: Mit 91 Jahren stirbt der angesehene | |
Hirnforscher Meno Rubin, und auf dem Totenbett spricht er so geheimnisvoll | |
wie zärtlich von einer Frau namens Rachel. | |
Tochter Atara weiß zwar von einer ersten und schnell wieder aufgelösten Ehe | |
des Sterbenden, über die Hintergründe der Trennung durfte im Elternhaus | |
aber nicht gesprochen werden. Da die Verbitterung des Vaters vor allem | |
Ataras Kindheit auf schmerzhafte Weise geprägt hat, macht sie sich auf die | |
Suche nach Rachel. | |
Israel ist ein kleines Land, und mit Hilfe eines Privatdetektivs ist die | |
Zielperson schnell ausgemacht. Atara inszeniert eine Begegnung im Theater, | |
spricht die betagte und sichtlich verstörte Rachel an, drängt auf eine | |
Verabredung. Irgendwann steht sie vor Rachels Tür, aber ihr wird zunächst | |
nicht aufgemacht, so wie vor 70 Jahren auch Rachel nicht aufgemacht wurde, | |
als sie vor Menos Tür stand, aber das wird Atara erst später erfahren. | |
## Kämpfe gegen die Besatzung | |
Die Geschichte von Meno und Rachel ist nämlich nicht nur die einer großen | |
Liebe, sondern auch die einer Kränkung, die eng mit der gemeinsamen | |
politischen, nämlich terroristischen Biografie verbunden ist. Meno und | |
Rachel kämpften in den 1940er Jahren gemeinsam gegen die britische | |
Besatzung in Palästina. | |
Wer ansatzweise nachvollziehen möchte, warum in Israel bis heute um jeden | |
Quadratmeter Grund gekämpft wird, wird wie Shalevs Roman weit zurückschauen | |
müssen in die Geschichte Palästinas. Die Zerrissenheit des Landes begann | |
keineswegs erst mit dem Teilungsplan der Vereinten Nationen und mit der | |
Gründung Israels im Mai 1948. | |
Der Kampf der Juden um staatliche Anerkennung handelte immer auch von jener | |
biblischen Vergangenheit, die damals wie heute radikalen Siedlern als | |
Argument dient, um territoriale Ansprüche geltend zu machen, die zu anderen | |
Zeiten und von anderen Mächten allerdings verworfen wurden. 1922 übertrug | |
der Völkerbund dem Vereinigten Königreich das Mandat über Palästina, was | |
die Konfliktlinien noch verschärfte. | |
## Kämpfer der Freiheit | |
Die britischen Besatzer setzten mit Mohammed Amin al-Husseini einen | |
islamistischen Nationalisten als Mufti von Jerusalem ein, der schon bald | |
mit dem NS-Regime zusammenarbeitete. Dieser Mann, der später ein wichtiger | |
Mentor Jassir Arafats werden sollte, unterstützte den Holocaust, indem er | |
die Fluchtwege für Juden aus Europa nach Palästina blockierte. Er war | |
Mitglied der SS und sorgte dafür, dass zigtausend jüdische Kinder den Nazis | |
ausgeliefert wurden. | |
Die Juden in Palästina mussten sich also nicht nur den britischen | |
Okkupanten, sondern auch den arabischen Antizionisten gegenüber zu Wehr | |
setzen. Mit dem Ziel, den eigenen Leuten endlich mehr Sicherheit zu bieten, | |
gründete sich in den jüdischen Siedlungen die Hagana, eine paramilitärische | |
Organisation, die gegenüber der britischen Krone wiederum eine eher | |
moderate Haltung einnahm. | |
Was einige Mitstreiter nicht akzeptieren wollten. So entstanden | |
Terrorgruppen wie die Lechi, die sich „Kämpfer der Freiheit Israels“ | |
nannten und mit Bombenanschlägen die britischen Imperialisten aus dem Land | |
zu vertreiben versuchten. | |
## Das Liebesversprechen | |
Dieser historische Stoff wurde auch schon in anderen Romanen eingewoben, | |
etwa zuletzt in Stewart O’Nans „Stadt der Geheimnisse“. Bei Zeruya Shalev | |
liefert die in Israel mittlerweile zur Heldensaga verkommene | |
Terrorvergangenheit die Grundlage für einen Sündenfall, der die Figuren | |
über drei Generationen hinweg erschüttern wird. | |
Meno bricht nämlich auf rabiate Weise sein Liebesversprechen, das er Rachel | |
gab, um sich und auch der Mitstreiterin ein Leben in Freiheit zu | |
ermöglichen. Nichts soll nach der Gründung Israels auf die tödlichen | |
Aktionen der beiden hindeuten. | |
Doch die Gewalt wird aus Menos Leben nicht verschwinden. Weder beruflicher | |
Erfolg noch Familienglück werden die Brutalität des ehemaligen | |
Bombenlegers einhegen. Vor allem Tochter Atara hat unter den irren | |
Ausbrüchen des Vaters zu leiden: „Ihre ganze Jugend hindurch musste sie die | |
kahlen Stellen unter ihrem dunklen Haar verstecken, weiße Flecken der | |
Erniedrigung und des Schmerzes, denn noch während sie in seinem Arm | |
zappelte und versuchte, ihm zu entkommen, hatte er ihre Locken gepackt, und | |
sie spürte, dass er gleich auch die Kopfhaut abreißen würde.“ | |
## Familiengeschichte – ein Fluch | |
In langen, beschwörenden Sätzen beschreibt Zeruya Shalev das Seelenleben | |
ihrer Figuren. Immer versuchen sich die Charaktere aus ihren | |
Zwangsverhältnissen zu befreien. Auch Atara will ihr Schicksal in die Hand | |
nehmen, sich absetzen von der väterlichen Prägung, bleibt aber gefangen in | |
ihrem „Kindheitsgefängnis“. | |
Die Familiengeschichte wirkt auf Atara wie ein generationsübergreifender | |
Fluch: War es eine unglückliche Verkettung von Zufällen, dass Meno Rubin in | |
seiner Untergrundzeit eine Frau namens Atara Schamir mit Instruktionen | |
für einen Anschlag in den Tod schickte? Hätte er bei der geliebten Rachel | |
bleiben sollen? Fürchtete er, auch für sie eine Art Todesengel zu sein? | |
Warum gab er seiner Tochter den Namen der verstorbenen Kombattantin? | |
Alles scheint in diesem Schicksalsroman mit allem zusammenzuhängen und dann | |
wieder auch nicht. Es handelt sich um eine äußerst bedrückende Lektüre, die | |
durch die vielen politischen und religiösen Verweise, aber auch durch die | |
geschickten Mehrfachspiegelungen der Charaktere dementsprechend | |
anspruchsvoll ist. | |
## Altmodische Übersetzung | |
Leider wirkt die Übersetzung von Anne Birkenhauer etwas altmodisch: „Hinter | |
dem offenen Küchenfenster gewahrte sie den Schatten einer Bewegung“, heißt | |
es schon in den ersten Zeilen. Es scheint, als habe sich Birkenhauer zu | |
sehr ans Original gehalten, näher jedenfalls [1][als Mirjam Pressler,] die | |
bis zu ihrem Tod 2019 die Werke Shalevs ins Deutsche übertrug. Pressler | |
ging künstlerisch eigenständiger vor und verlieh dem rauschhaft-künstlichen | |
Sprachklang Shalevs eine eigene, modernere Note. | |
Das Pathos der israelischen Autorin ist zuweilen kritisiert worden, doch | |
gerade der hohe und zugleich düstere Ton ist in ihrem neuen Roman | |
inhaltlich begründet, und die Erzählfäden werden kunstvoll zu einem | |
Textgewebe verflochten: In jeweils personaler Erzählperspektive werden die | |
Lebensläufe Rachels und Ataras vorgetragen, sie überschneiden und ergänzen | |
sich, um sich dann im Finale immer näher zu kommen. | |
Bitter auch die Pointe des Romans, denn Rachels und Ataras Söhne haben sich | |
nicht nur von ihren Müttern, sondern auch von deren säkularem Judentum | |
abgewendet. Ihre Erlösung finden sie in den Erzählungen von Rabbi Nachman | |
und der Kabbala. Der esoterisch-mythische Glauben bietet diesen Männern | |
eine Art Seelenheilung, die im Hebräischen Tikkun genannt wird. | |
## Traurige Helden | |
Zeruya Shalev hat mit „Schicksal“ einen Roman geschrieben, der subtil auch | |
von [2][aktuellen Krisen in Israel] und einem Alltag in einem | |
Konfliktgebiet erzählt, das sich auch als persönliches Schlachtfeld der | |
traurigen Helden erweist. Mit den Romanen „Liebesleben“, „Mann und Frau�… | |
„Späte Familie“ erschrieb sich die 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth | |
geborene Schriftstellerin weltweit ein Millionenpublikum. | |
In mehr als 20 Sprachen sind ihre Bücher übersetzt worden, und vielleicht | |
liegt der literarische Erfolg der studierten Bibelwissenschaftlerin auch | |
darin begründet, dass es der Autorin gelang, ihre Liebesprosa mit | |
Reflexionen auf die religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer | |
Heimat zu verbinden. | |
Ihr neuer Roman, der Trauergesang und Freiheitsdrama gleichermaßen ist, | |
fügt sich gut ein in ihr Werk, das in ästhetischer Überfülle von | |
berührenden Liebesabstürzen erzählt. „Schicksal“ ist auch als | |
Anklageschrift gegen die Gewalt in der israelischen Gesellschaft zu lesen, | |
die seit Generationen von Terror, Hass und Vergeltung geprägt ist und kaum | |
noch Raum lässt für die Sehnsucht nach Tikkun. | |
4 Jun 2021 | |
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Carsten Otte | |
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