| # taz.de -- Joy Williams Buch „Stories“: Mit tiefer Verwunderung | |
| > Was Menschen sich antun, und wie sie ihr Leben meistern: In „Stories“ von | |
| > Joy Williams ist eine große Erzählerin zu entdecken. | |
| Bild: Joy Williams: Der Horror kündigt sich in ihren „Stories“ nur an, er … | |
| Der in seiner Schlichtheit fast schon wieder prahlerische Titel „Stories“ | |
| sagt es deutlich – Joy Williams müssten wir eigentlich alle kennen. | |
| Hierzulande kann man allerdings nicht mal von einer Wiederentdeckung | |
| sprechen. | |
| Die beiden bisher auf Deutsch erschienenen Story-Bände „Sommer“ und „Der | |
| kleine Winter“, mit einigen Überschneidungen zur aktuellen Sammlung, sind | |
| drei Jahrzehnte alt und haben keinen großen Eindruck hinterlassen, weil | |
| Erzählungen schon damals keinen Markt hatten und Erzählungen von Frauen | |
| vielleicht noch weniger. „Stories“ bietet nun eine Gelegenheit, dieses | |
| offensichtliche Rezeptionsversäumnis nachzuholen. | |
| Ihr Kommilitone [1][Raymond Carver] hat die Arbeit der heute 79-Jährigen | |
| sehr geschätzt, und man ahnt schon, warum. Auch Williams betrachtet die | |
| Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint. Es sind | |
| die Geheimnisse des Profanen, die sich ihrem detailscharfen Blick fast | |
| selbstverständlich offenbaren, einer Normalität, die anfangs fast schon | |
| aufgeräumt erscheint und dann unmerklich ins Unheimliche, Verstörende, | |
| Abgründige, aber auch schon mal Komische hinübergleitet. | |
| ## Schuldig ohne zu wissen warum | |
| In der Geschichte „Die Mutterzelle“ umrundet Joy Williams bedächtig einen | |
| Kreis von Müttern, deren Kinder wegen Mordes im Gefängnis sitzen. Die | |
| Frauen treffen sich regelmäßig zum Plaudern, bezeichnen sich aber | |
| ausdrücklich nicht als „Selbsthilfegruppe“. Weil ihnen nicht zu helfen ist. | |
| Sie sind schuldig, und wissen doch nicht, was sie sich vorwerfen sollen. | |
| Sie stehen unter Beobachtung, und wie sie sich auch verhalten, sie können | |
| es ihre Umgebung nicht recht machen. | |
| Leslie etwa wohnt neben einer Frau, die ihren Jungen im Krieg verloren hat, | |
| und bereits wenn sie grüßt, zischt die Nachbarin sie an. „Sie hat einen | |
| Kirschbaum gepflanzt, wahrscheinlich für den Jungen, und der Baum hat die | |
| Pflanzengalle. Erst ein paar Jahre alt, und jetzt hat er diesen riesigen | |
| Klumpen. Ich weiß, es muss ihr das Herz brechen. Ich würde ihr ja gern | |
| sagen, dass manche Gallen auch nützlich sind. Sie geben dem Erdboden | |
| Stickstoff zurück, und das ist gut. Und in mancher Hinsicht sind sie auch | |
| für den Menschen nützlich.“ | |
| „Du weißt sehr viel, Leslie“, antwortet darauf eine andere Mutter, „aber | |
| ich glaube, aus deinem Mund würde das der Frau keinen Frieden bringen.“ | |
| ## Alle Schattierungen der Melancholie | |
| Das ist womöglich das „Wunder“, das Carver in Williams’ Geschichten | |
| ausmacht: dass sich die US-amerikanische Tristesse hier nicht nur in allen | |
| Schattierungen der Melancholie präsentiert, sondern dass sie ihr auch so | |
| etwas wie Komik abgewinnen kann, eine lakonische, unverfrorene Komik. | |
| Ihr Beobachtungsmodus ist fast immer tiefe Verwunderung – darüber, wie | |
| Menschen agieren, was sie einander antun, aber auch mit welcher | |
| Beharrlichkeit, sie ihr Leben zu meistern versuchen. Der Priester in der | |
| ersten Geschichte „Liebe“ zum Beispiel, „ausgemergelt vom Glauben“ küm… | |
| er sich rührend um das Baby seiner Tochter, die auf einem | |
| Selbstfindungstrip in Mexiko weilt, und bangt um das Leben seiner | |
| leukämiekranken Frau. Schließlich holt er sie aus dem Krankenhaus nach | |
| Hause, um ein letztes Weihnachten mit ihr zu feiern. | |
| Dieses vehemente Durchhaltevermögen der Protagonisten erscheint ihr umso | |
| erstaunlicher, als alte Sinnstiftungsinstanzen wie Religion, Freundschaft | |
| und Familie sich nicht immer als besonders hilfreich in der Krise erweisen. | |
| In „Letzte Generation“ freundet sich der neunjährige Tommy mit Audrey, der | |
| Ex seines älteren Bruders an. | |
| ## Poetische Beschreibungsprosa | |
| Tommys Mutter ist gestorben, der Vater mit seiner Trauer beschäftigt, der | |
| Bruder mit seinen Hormonen, und so umgarnt ihn das Mädchen mit ihrem | |
| moribunden Gerede, das direkt aus der Giftküche einer Southern-Gothic-Sekte | |
| kommen könnte. | |
| Der Horror kündigt sich nur an, er bleibt implizit, beispielsweise in einem | |
| Pullover „mit kleinen, in Reihen rennenden Tieren drauf. An den Nähten von | |
| Ärmeln und Kragen sah man nur Teile von den kleinen Tieren.“ | |
| Nur die Erzählung „Kongress“, in der sich ein namhafter Forensiker bei | |
| einem Jagdunfall selbst lobotomiert und seine Ehefrau eine Beziehung mit | |
| einer zuvor von ihm aus Rehläufen gebastelten Lampe eingeht, gehorcht allzu | |
| offensichtlich einer Traumlogik. Sie fällt heraus und qualitativ auch etwas | |
| ab. | |
| Ihre anderen Geschichten brauchen diesen Sprung ins Fantastische gar nicht, | |
| der Albtraum steckt in der Realität selbst, und Joy Williams macht ihn | |
| kenntlich mit ihrer zweckmäßigen, metaphernlosen und trotzdem poetischen | |
| Beschreibungsprosa. | |
| 27 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frank Schäfer | |
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