Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erzählungen von Emma Cline: Das Leben in Scharf und Unscharf
> Emma Clines Geschichten sind jenseits aller Identifikationsangebote. In
> „Daddy“ beleuchtet sie ambivalente Lebenslagen.
Bild: Emma Cline wurde 2016 mit ihrem Roman „The Girls“ berühmt
In der ersten Geschichte dieses Bandes, „Was macht man mit einem General“,
kommen die groß gewordenen Kinder nach Hause, um mit ihren Eltern
Weihnachten zu verbringen. Man meint dieses Setting gleich zu kennen: Erst
strengen sich alle an, heile Welt zu spielen, dann tritt ein schwelendes
Familiengeheimnis zutage, dann eskaliert die Situation. Denkt man.
Doch Emma Cline verschiebt die Situation, denn es gibt hier gar kein
Geheimnis, das dramatisch aufgedeckt werden müsste. Dass der an der
Schwelle zum Alter stehende Vater – der Rücken macht nicht mehr richtig mit
– früher Wutanfälle hatte und gewalttätig war, ist so selbstverständlich
klar, dass es gar nicht erst groß thematisiert werden muss.
Ganz beiläufig wird erzählt, dass es einmal „schlimme Phasen“ gegeben hat,
in denen seine Frau „ihn manchmal aus dem Haus ausgesperrt hatte oder mit
ihren Kindern zu ihrer Mutter gegangen war“. Und er hat sich ja auch
gebessert, mit Atemübungen und Impulskontrolle. Und er trinkt mittlerweile
ja auch maßvoll.
Emma Cline arbeitet ganz unangestrengt das Ambivalente, das beinahe
inzwischen sogar „Okaye“ der Situation heraus. In diesem „beinahe“ stec…
aber der Abgrund. Alle bemühen sich tapfer, ein Familienleben hinzukriegen,
und eigentlich klappt das auch, nichts eskaliert, aber zugleich geht dieses
Weihnachten natürlich furchtbar schief.
## Sie haben sich nichts zu sagen
Sie sehen alte Familienfilme und gehen sich in Wirklichkeit aus dem Weg.
Der Vater fährt mit seiner Tochter Sasha (die sich inzwischen immerhin
nicht mehr ritzt) zur Mall, um Kleidung zu kaufen; zu sagen haben sie sich
nichts.
Emma Cline erzählt von diesem Weihnachten, als läge eine Glaskugel um diese
Familie, sie baut eine nahezu klassisch anmutende Story-Maschinerie
drumherum mit aufblitzenden und gleich wieder verschwindenden Gefühlen und
kurzen Rückblenden – was einen viel mehr mitnimmt, als wenn es um direkte
Anklagen gehen würde.
Und dann heißt es aus der Sicht des Vaters, „dass sich ein Schleier
zwischen ihn und diese Gruppe von Menschen herabsenkte, die seine Familie
waren. Sie wurden auf angenehme Weise unscharf, so vage, dass er sie lieben
konnte“.
Es berührt einen beim Lesen sehr, wenn man realisiert, dass in dieser
Familie niemand dem anderen in die Augen sehen kann, eigentlich auch
niemand sich selbst. Das zieht sich durch den gesamten Band. Sobald die
Figuren den Blick auf ihr eigenes Leben scharfstellen, ist es für sie
unerträglich. Solange sie es aber bei einem unscharfen Blick belassen – und
das ist dann halt das, was sie tun –, geht es eigentlich erst mal wieder.
In einer anderen Geschichte, „Northeast Regional“, ist es der Sohn, der
etwas Schlimmes getan hat. Was er getan hat, wird nicht gesagt, auf jeden
Fall braucht ein anderer Junge jetzt Betreuung und der Sohn muss vom
Internat.
## Hilflose Figuren
Es ist eine Geschichte um weitergegebene Gefühlsblindheit und
Unachtsamkeit, sich selbst und auch allen anderen gegenüber, und Emma Cline
dreht die Schraube immer noch eine Umdrehung weiter, bis am Schluss alle
Figuren in ihrer Hilflosigkeit wie nackt vor einem stehen: der Vater, der
Sohn, auch die Maklerin, mit der der Vater eine Affäre hat, und auch die
Freundin des Sohnes.
Emma Cline bietet keine Identifikationsfiguren an. Überhaupt scheint sie in
diesen zehn Geschichten insgesamt auszuprobieren, wie weit man mit
durchgehend gebrochenen bis unsympathischen Figuren literarisch kommen
kann.
Ziemlich weit, kann man sagen. „Marion“, die älteste Geschichte, stammt von
2013. Sie liest sich wie eine Vorstudie zum [1][Roman „The Girls“ um zwei
Mädchen vor dem Hintergrund der Charles-Manson-Morde, mit der Emma Cline
2016, damals 27-jährig, gleich furchtbar berühmt geworden ist] – und der
ihr einen Verlagsdeal in Höhe von zwei Millionen Dollar einbrachte; der
US-amerikanische Literaturbetrieb ist dann doch eine andere Hausnummer als
der deutsche.
## „The Girls“ war ihr Debütroman
Seit diesem Debüt hat Emma Cline einiges erlebt, inklusive Plagiatsklage
seitens ihres Exfreundes mit unschönen Details, die dann aber vor Gericht
abgewiesen wurde. Direkt thematisiert werden solche persönlichen
Erfahrungen in diesen Geschichten nicht, aber sagen wir so: Hoffnung, dass
Liebe ein Ausweg wäre, vermitteln sie nicht gerade, und die Jungen kommen
genauso schlecht weg wie die Älteren.
Schon die frühe Geschichte „Marion“ zeigt, was Emma Cline als Autorin kann.
Mit zwei, drei Sätzen vermag sie Situationen emotional auszuleuchten. Aber
hier wirkt das noch etwas gepresst oder vorgeführt: „[…] Marion, die mir im
Sonnenschein zulächelte, […] mir die Haare flocht, die farblos und dicht
geworden waren, voller Staub und dem eigentümlichen Duft von Hitze“. In den
späteren Geschichten wird es feiner.
In der Geschichte „Sohn von Friedman“ will George, der Filmprojekte
entwickelt, etwas von seinem alten Freund William, einem berühmtem
Produzenten: „Während George sprach, änderte sich Williams Miene nicht,
schien allerdings ganz leicht zu erschlaffen“. Da ist schon alles klar,
George muss selbst zurechtkommen.
Es gibt nur kurz aufleuchtende, einen beim Lesen aber lange begleitende
Details wie die blutende Wunde auf der Kopfhaut eines Jungen auf einer Farm
in „Arcadia“ oder den alten Hund in der Generalsgeschichte, der schon
eingeschläfert werden sollte, dann aber doch noch einen Herzschrittmacher
bekam, nun aber wegen der Operationsnarbe nicht herumtoben darf und seine
Herrchen nur noch hasserfüllt ansieht; es dreht einem das Herz um.
## Tradition der Short-Story
Formal liegt ein Anflug von literarischem Konservatismus über diesen
Geschichten. Eine Stürmerin und Drängerin, die die Kurzgeschichte von Grund
auf neu erfinden würde, ist Emma Cline nicht. Dafür aktualisiert sie die
große Tradition der US-amerikanischen Short Story, indem sie genaue, die
Subtöne und das Ungesagte immer mitbedenkende und alles in allem
illusionslose Blicke auf Sozialbeziehungen und Selbstdarstellungen wirft.
Als „earnestness punctuated by millennial cool“ hat ihr
[2][Schriftstellerkollege Brandon Taylor] in der New York Times Emma Clines
Stil bezeichnet, und das trifft es sehr gut.
Neben den missglückenden Beziehungen durchzieht ein zweites Thema den Band:
scheiternde Versuche, ein Leben zu leben, das dem Bild, das man sich von
ihm gemacht hat, entsprechen würde. Über eine Episode mit schlechtem Sex
heißt es: „Es war erträglich gewesen, weil es zu einer Geschichte werden
würde, zu etwas Verdichtetem und Mitteilbarem. Sogar Komischem.“
Die Hoffnung, dass das eigene Leben, so durcheinander und teilweise kaputt
es ist, doch noch eine sinnvolle Geschichte ergibt, teilen hier viele
Figuren – Emma Cline wiederum ist allerdings nicht die Erzählerin solcher
sich rundenden Geschichten. Dazu registriert sie zu genau die Brüche und
das Illusionäre dieser Hoffnungen.
In der Geschichte „Das Kindermädchen“ hat die titelgebende Hauptfigur eine
Affäre mit einem Hollywoodstar, die herauskommt, und sie muss sich vor der
Öffentlichkeit verstecken. Sie ist streetwise und cool, man mag sie, aber
am Schluss, als sie das Haus verlässt, in dem sie untergetaucht war, zieht
sie „den Bauch ein, bloß für alle Fälle – denn wer weiß? Vielleicht
versteckte sich da draußen in der Dunkelheit ein Fotograf“.
## Der Fremdblick bestimmt sie
Das ist schon eine sehr gemeine Wendung, die, während das hilflos
Gebrochene viel über die Älteren in diesen Geschichten erzählt, etwas über
die Jüngeren enthüllt: Im Zweifel richten sie sich doch nicht nach ihrem
Selbstbild, sondern nach dem Fremdblick auf sie aus.
Warum soll man traurige Filme schauen, heißt es an einer Stelle. Diese
Frage lässt sich erweitern: Warum soll man Geschichten lesen, die so
jenseits aller Identifikationsangebote geschrieben sind? Bei Emma Cline
lässt sich sagen: Weil man die Genauigkeit ihrer Menschenbeobachtung
bewundern kann, das ästhetische Gelingen vieler Wendungen sieht und die
Intensität, mit der sie an die Kurzgeschichte als Möglichkeit einer
Bestandsaufnahme von ambivalenten Lebenslagen glaubt, einen durch diesen
Band zieht.
In der besten dieser Geschichten, „Mackie Messer“, treffen sich drei alte
Freunde nach einiger Zeit mal wieder in einem Restaurant in Manhattan. Es
gibt in ihrem Leben berufliche Niederlagen zu verarbeiten, Trennungen, die
Krebsdiagnose eines Kindes, aber jetzt wollen sie einmal wieder einen guten
Abend haben. Die Kellnerin „tat so, als flirtete sie mit ihnen, sie taten
so, als flirteten sie zurück“. Es passiert gar nicht viel, wie seitwärts
geht die Erzählung an diesem Abend vorbei, seiner Schwermut, aber auch
seinem tapferen Glimmern.
Dann gibt es eine Taxifahrt zurück über die Brooklyn Bridge. Das Panorama
der Großstadt weckt einen Glücksmoment: „Man konnte sich vorstellen, dass
es beinah stimmte, alles, was man einmal vom Erwachsensein geglaubt hatte.“
Da ist es wieder, dieses „beinahe“. Emma Cline stellt in diesen Geschichten
das Unscharfstellen scharf.
25 Jul 2021
## LINKS
[1] /Serienkolumne-Die-Couchreporter/!5339599
[2] /Debuetroman-von-Brandon-Taylor/!5771300
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Buch
Roman
US-Literatur
Kurzgeschichte
Familiengeschichte
Podcast „Vorgelesen“
Roman
Buch
Literatur
deutsche Literatur
US-Literatur
Aquarius
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Roman von Emma Cline: Die Rückseite der Hamptons
In „Die Einladung“ lässt US-Schriftstellerin Emma Cline eine Frau durch die
Welt der Reichen stolpern. Sie versucht dabei, ein sorgloses Leben
abzugreifen.
Joy Williams Buch „Stories“: Mit tiefer Verwunderung
Was Menschen sich antun, und wie sie ihr Leben meistern: In „Stories“ von
Joy Williams ist eine große Erzählerin zu entdecken.
Erzählband von Autor John Wray: Rest von kostbarer Unerklärbarkeit
„Madrigal“ heißt das erste auf Deutsch verfasste Buch von Autor John Wray.
Bei aller beiläufigen Leichtigkeit ist es keine leichte Lektüre.
Anna Prizkaus „Fast ein neues Leben“: Nicht mehr hübsch, nur kaputt
Das menschliche Drama entfalten: Anna Prizkaus Debüt „Fast ein neues Leben“
über ein Mädchen im neuen Land. Heute Abend live im taz-talk.
Neue Erzählungen von Lauren Groff: Wenn die Situation kippt
Hurrikans und Mutterschaft, Sex, Angst und Wut: US-Autorin Lauren Groff hat
den Erzählungsband „Florida“ veröffentlicht.
Serienkolumne Die Couchreporter: Frauen als Golden Retriever
Das Buch „The Girls“ und die Serie „Aquarius“: Wer die Schauergeschicht…
Charles Manson nutzt, bekommt viel Geld dafür.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.