| # taz.de -- Anna Prizkaus „Fast ein neues Leben“: Nicht mehr hübsch, nur k… | |
| > Das menschliche Drama entfalten: Anna Prizkaus Debüt „Fast ein neues | |
| > Leben“ über ein Mädchen im neuen Land. Heute Abend live im taz-talk. | |
| Bild: Anna Prizkau. „Fast ein neues Leben“ sind ihre zwölf Erzählungen be… | |
| Es ist ein ein schönes und wahrhaftiges, ein trauriges und manchmal | |
| beklemmendes Buch, das Anna Prizkau geschrieben hat. „Fast ein neues Leben“ | |
| heißt es. Es ist ihr erstes und versammelt zwölf Erzählungen, | |
| [1][klassische Short Stories], die für sich stehen, zusammen aber die | |
| Geschichte eines Mädchens erzählen, das in seinem neuen Land, Deutschland, | |
| erwachsen wird. | |
| Es ist nur „fast ein neues Leben“, weil die Menschen, die dem Mädchen | |
| begegnen, ihr es nicht zugestehen wollen. Mal subtil, mit Bemerkungen und | |
| Fragen, mal brutal, mit Schlägen und Fußtritten, wird die Erzählerin daran | |
| erinnert, dass sie als Kind aus ihrem alten Land gekommen, dass sie | |
| „Ausländerin“ ist. Sie spürt es, sie weiß es und sie versucht [2][ihre | |
| Herkunft], so gut es geht, zu verbergen: „Kein Mensch kannte mich, wie ich | |
| früher war.“ | |
| Die Verleugnung der Herkunft soll die Eintrittskarte ins neue Leben sein. | |
| Sie schämt sich für ihre Eltern, aus deren Mund nur ein Wort kommen muss, | |
| um ihr Anderssein zu verraten. Mit der Scham kommen die Lügen, durch die | |
| Lügen wird die Scham noch größer, und der Wunsch dazuzugehören hat noch | |
| weniger Aussicht auf Erfüllung. | |
| Derzeit erleben wir eine Welle von Romanen von jungen Frauen und Männern | |
| (die jungen Frauen sind eindeutig in der Überzahl), die von ihren | |
| Erfahrungen als Kinder von Einwanderern erzählen. Manche dieser Bücher sind | |
| literarisch aufregend, verstörend, herausfordernd. Die meisten sind es | |
| nicht. Oft sind es die Letzteren, die besonders erfolgreich sind, woraus | |
| sich schließen lässt, dass viele diese Bücher nicht lesen, weil sie | |
| herausgefordert werden wollen. „Thema“ schlägt Sprache, und „Authentizit… | |
| wird nicht durch präzise Beobachtung und Beschreibung des Widersprüchlichen | |
| verbürgt, sondern mittels Bestätigung des bereits vermeintlich Gewussten. | |
| „Fast ein neues Leben“ zählt nicht zu diesen Büchern. In jeder von Prizka… | |
| Geschichten gibt es einen unauflösbaren Konflikt, ein Drama, das | |
| unaufhaltsam eintreten muss, weil die Verhältnisse so sind, wie sie sind. | |
| Es ist das menschliche Drama, das sich nur beispielhaft im Drama des | |
| Mädchens aus dem alten Land entwickelt, das „Angst vor dieser einen Frage“ | |
| hat: „Woher kommst du?“ | |
| Der Vater verliebt sich im Urlaub mit der Tochter in eine Frau. Die Tochter | |
| wünscht sich, dass der Vater eine neue Liebe findet, obwohl er die Mutter | |
| umsorgt, die im neuen Land so unglücklich ist, dass sie davon krank wird. | |
| Oder: Die Erzählerin kann ihrem Freund nicht erzählen, dass Männer sie | |
| geschlagen haben, weil sie dann das Geheimnis ihrer Herkunft preisgeben | |
| müsste. Sie hatte in der Straßenbahn telefoniert, in der Sprache des alten | |
| Landes. Oder: Vater und Tochter ermuntern die Mutter, nicht zu kündigen, | |
| obwohl sie wissen, dass der Boss mehr von der Mutter will und bekommt als | |
| ihre Arbeit. Wenn die Mutter weint, ist sie „nicht mehr hübsch, nur | |
| kaputt“. | |
| Auch die deutschen Familien sind kaputt, nicht weniger jedenfalls als die | |
| von Samiha und Olcay aus dem „Türkenkinderviertel“, mit denen die | |
| Erzählerin spielt, weil die deutschen Kinder in den Hort gehen, die Kinder | |
| der Fremden aber nicht, weil deren Eltern weniger Geld haben und die | |
| Formulare nicht ausfüllen können. Die Türkenkinder und die Erzählerin haben | |
| noch etwas anderes gemein: Sie werden „wie seltene und unerforschte Tiere | |
| angestarrt und gefürchtet“. | |
| Anna Prizkaus kurze, harte Geschichten bezeugen mit ihren kurzen, | |
| geschliffenen Sätzen den Triumph der Literatur über ein Schreiben, das | |
| seine Autorinnen, Protagonisten und Leserinnen im Käfig der „Identität“ | |
| gefangen hält. Die einen sitzen drin, die anderen schauen drauf. | |
| Anna Prizkau ist [3][heute Abend] im taz-talk zur Buchmesse und spricht | |
| über ihr Debüt „Fast ein neues Leben“. Alle Talks zur Buchmesse im | |
| Überblick finden Sie [4][hier]. | |
| 13 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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