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# taz.de -- Roman „Die Sommer“ von Ronya Othmann: Über Tellerminen hüpfen
> Verfolgung traumatisiert, das spüren auch die Kinder geflüchteter Eltern.
> Eindringlich erzählt Ronya Othmann davon in ihrem Roman „Die Sommer“.
Bild: Flüchtlingslager an der syrisch-türkischen Grenze 2016. Viele vom „IS…
Junge Frauen, die in Ländern groß werden, wo Frieden, Wohlstand und
Gleichberechtigung auf den Bäumen wachsen, machen alle dasselbe: sich auf
Partys langweilen, die Fußnägel lackieren, Bücher lesen, Serien gucken,
Frauen knutschen, rauchen, lästern, sich einsam und unverstanden fühlen,
keine Hausaufgaben.
In Deutschland gibt es unter diesen jungen Frauen aber einige, in deren
Elternhaus andere Nachrichten laufen als in den meisten anderen
Wohnzimmern. Es sind die Kinder von Geflüchteten, die zwischen der Welt der
Eltern und der Welt ihrer Vorstadtjugend festklemmen.
Die Autorin und Journalistin Ronya Othmann hat in ihrem Romandebüt „Die
Sommer“ eine solche junge Frau porträtiert, autobiografische Anleihen
eingeschlossen. Leyla, die bei München lebt, ist die Tochter eines
jesidischen Kurden aus dem Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei und
einer deutschen Mutter aus dem Schwarzwald.
Als Kind verbringt sie jeden Sommer in dem kleinen Dorf der jesidischen
Großeltern – „die Berge im Norden, die Ölpumpen im Osten und Süden, die
Straße nach Tirbespi im Westen“ – eine Gegend, wo man Fische mit
Tellerminen angelt, die man aus dem Grenzstreifen ausgebuddelt hat.
## Soziale Intelligenz und Aberglauben
Leyla hängt am Rockzipfel der Großmutter, die ihr alles beibringt: wie man
Schoten auffädelt, Schlangen vertreibt, wie man so sitzt, dass der Rock zu
jedem Zeitpunkt das Knie bedeckt, und dass man Kindern die Haare erst
schneidet, wenn sie sprechen können. „Scham kennen ist wichtig und keinen
Blattsalat essen“ ist eine von Großmutters Lebensweisheiten. Mit dem Satz
ist auch sie selbst am besten charakterisiert: ihre große soziale
Intelligenz, die sich mit einer großen Portion Aberglauben paart. Warum
keinen Blattsalat? Lesen Sie das Buch!
[1][Leser*innen der taz kennen Ronya Othmann aus ihrer Kolumne „Orient
Express“], in der sie gemeinsam mit Cemile Sahin über deutsche Außenpolitik
im Nahen Osten schreibt. Die 1993 geborene Münchnerin hat aber auch schon
den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2019 und etliche
andere Preise und Stipendien für Prosa und Lyrik gewonnen.
Geschickt verknüpft sie in ihrem Debüt schöne Kindheitserinnerungen an die
Heimat des Vaters mit dessen eigenen, nicht so schönen Erinnerungen daran.
Sobald der Vater eine Papierserviette in die Hände kriegt, malt er kleine
Quadrate darauf, einige mit Kreuzen drin, die die Minen auf dem
Grenzstreifen symbolisieren sollen („Wer danebentrat, der verlor einen Arm,
ein Bein, sein Leben“). Leyla überträgt sein Papierserviettenspiel auf
Steinplatten von Gehwegen, Straßen und Höfen, über die sie läuft: Die Fugen
der Platten sind Minen. Wer drauftritt, ist tot.
Othmann schafft einen Einblick in eine Welt, die wir auf den ersten Blick
zu kennen meinen. Sie ähnelt der Welt europäischer Großeltern in ländlichen
Regionen mit ihrem konservativen Welt-, Männer- und Frauenbild. Aber
anders als die Welt von bayerischen oder hessischen Großmüttern, ist die
Welt von Leylas Familie väterlicherseits fast ausgelöscht, durch den Terror
des islamistischen IS: „Ab 2011 wurde der Fernseher nicht mehr
ausgeschaltet.“
## Keinen Frieden finden
Der Massenmord an den Jesiden, den Othmann im zweiten Teil des Romans
thematisiert, macht aus der ganz normalen jungen Frau ihrer Generation
einen Menschen, der keinen Frieden mehr findet. Nicht nur ist sie durch das
Schicksal ihrer Familie und die versuchte Vernichtung ihrer Ethnie
traumatisiert, fast noch stäker durch die Teilnahmslosigkeit und das
Unverständnis ihrer Freundinnen, ihrer Kommilitoninnen, ihrer deutschen
Umwelt.
Während der Roman aber Leylas Mutter völlig unbeleuchtet lässt, ist neben
der ausgiebig beschriebenen Großmutter der Vater die stärkste Figur. Als
politischer Flüchtling, der im Gefängnis war und gefoltert wurde, landet er
1980 in Deutschland, wo er nie richtig ankommt: „Sein Lächeln außerhalb des
Hauses ähnelte dem nachgeahmten Bayrisch der Mutter, eine Art Hut, den man
aufsetzte, wenn man das Haus verließ, ein Regenschirm, ein
Gebrauchsgegenstand für die Außenwelt.“
Nicht zuletzt der Rassismus, den er hier erfährt, macht aus ihm einen
komischen Kauz, der den Europäern die Schuld am Scheitern eines kurdischen
Staates gibt und seiner Tochter ob ihrer schlechten Schulnoten vorwirft,
ihren Eltern nicht dankbar genug zu sein.
## Gemessen an einer Kämpferin
Der Roman verarbeitet das Thema Identität ohne den üblichen Kitsch, mit dem
so oft über Herkunft geschrieben wird. Eine der stärksten Stellen dazu ist
die Geschichte hinter Leylas Namen und wie sie aufgelöst wird. Leyla wurde
von ihrem Vater nach drei anderen Leylas benannt: kurdischen Kämpferinnen
bzw. Politikerinnen, eine davon war seine Geliebte. „Ihr [Leylas] Leben,
ihre Geschichte wurden an ihrem Namen gemessen. Leyla dachte, dass ihr Name
nicht ihr gehörte. Sie gehörte dem Namen.“
Beispielhaft für den reduzierten Erzählstil von Ronya Othmann ist auch die
Art und Weise, wie Leylas Affäre mit der Barkeeperin Sascha zu Ende geht:
Die beiden setzen sich auf eine Bank, rauchen, sagen sich gegenseitig, dass
es nicht mehr geht, stehen auf und gehen. Um dieses jedem bekannte Drama zu
schildern, braucht Othmann gerade mal einen Absatz. Aber dieser Absatz
erzeugt eine so große Druckwelle, dass der Leserin die eigenen Erfahrungen
solcher Lebensabschnitte in die Erinnerung gepresst werden.
26 Aug 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Kurden
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