# taz.de -- Gedichte von Ronya Othmann: Noch immer August | |
> Ronya Othmann leistet mit ihrem ersten Gedichtband „die verbrechen“ | |
> poetische Erinnerungsarbeit. Sie gibt der Gegenwartslyrik damit einen | |
> neuen Ton. | |
Bild: Originäre Gestaltung, berührende Ausdruckskraft: Ronya Othmann | |
Wenn in der deutschen Medienöffentlichkeit über Poesie diskutiert wird, | |
dann geht es in aller Regel um Politik. Die unlängst geführte Diskussion | |
darüber, [1][ob das Land eine Parlamentspoetin brauche,] lieferte dafür das | |
jüngste Beispiel. Zu jenen politisch einmischungswilligen und literarisch | |
interventionsfähigen AutorInnen, deren Namen in dieser Debatte nicht | |
fielen, gehört Ronya Othmann. Othmann hat die Neigung, sich mit | |
tatsächlichen und wenig opportunen Problemen, wie etwa der Unterdrückung | |
und Verfolgung der Kurden, zu befassen. | |
Dass sie sich daher für das Amt der Bundestagspoetin gerade nicht eignen | |
würde, spricht für sie und kennzeichnet ihre Qualitäten als Journalistin, | |
Intellektuelle und Schriftstellerin. Nachdem ihr Roman „Die Sommer“ 2020 | |
breit besprochen und gewürdigt wurde, liegt mit „die verbrechen“ nun ihr | |
erster Lyrik-Band vor. Es handelt sich um ein Werk von solch originärer | |
Gestaltung, existenzieller Tiefe und berührender Ausdruckskraft, dass es | |
sich fast verbittet, vom lyrischen Debüt zu sprechen – es sei denn, um über | |
diese Tatsache zu staunen. | |
Dies gilt umso mehr, wenn man sich die Stoffwelt vergegenwärtigt, in der | |
sich die 1993 geborene, einer jesidisch-kurdischen Familie entstammende | |
Autorin so souverän bewegt. Othmanns Gedichtband schreibt sich her vom 3. | |
August 2014. An diesem Tag überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“ das | |
Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Nordirak. Es handelte sich um einen | |
Vernichtungsfeldzug, in dem es zum Massenmord an der jesidischen | |
Bevölkerung, zu ihrer [2][Vertreibung, Verschleppung, Vergewaltigung] und | |
Versklavung kam. | |
Dieser Verbrechen bleiben Othmanns Gedichte eingedenk. Sie erinnern an das, | |
was jene, die überlebten, niemals vergessen: „seit sechs jahren ist kein | |
tag vergangen. / trotzdem geht die sonne unter und ist der himmel / nicht | |
auf die erde gestürzt. du trägst den hibiskus / ins haus, und wo er stand, | |
fällt schnee und taut es / und ist noch immer august“. | |
## Angst kennt keine Entfernungen | |
Dorthin, wo der Hibiskus zum Überwintern reingeholt werden muss, sind | |
unweigerlich auch die Erinnerungen an das Erlebte und Verlorene | |
mitgekommen: „was du zurücklässt, ruft dich nachts, / folgt dir auf dem weg | |
zum supermarkt“. Viele der Gedichte vergegenwärtigen die Perspektive | |
derjenigen, die nach Westeuropa fliehen mussten und hierhin mitnahmen, | |
„wovon diese gegend nicht weiß“. | |
Den Heimatverlust und die Erfahrung, nicht ankommen zu können, setzt die | |
Autorin in einer Fülle eindrücklicher Bilder und poetischer Verfahren ins | |
Werk. Dass die in den Gedichten gestalteten SprecherInnen sich durch eine | |
intime Kenntnis der heimischen Botanik auszeichnen, im Ankunftsland jedoch | |
nur auf „diese gallengrünen bäume“ treffen, „die du nicht beim / namen | |
nennst“, ist nur ein Beispiel. Die verpflanzten Menschen und die Gewächse, | |
die sie mitbrachten, gedeihen auf der fremden Erde mit ihrem „mangel an | |
licht“ nicht. | |
Die Angst dagegen kennt keine Entfernungen und übersteht den Ortswechsel | |
schadlos („du trägst die angst wie einen mantel“). Sie kennt auch keine | |
Grammatik, wie es in einem der gelungensten Gedichte des Bandes heißt. | |
Indem die Verse darin zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen, | |
zwischen der raumzeitlichen Bestimmtheit und der naturgemäß-instinktiven | |
Unbestimmtheit der Angst changieren, wird deren Wesen und Genealogie so | |
präzise wie anschaulich gefasst, ohne dass der mitzudenkende Kontext dabei | |
verlorengeht („die angst ist immer ein mann mit bart, / ein mann mit bart | |
geht unter deinem fenster auf / und ab“). | |
Nicht nur hier wird deutlich: Wer den Verbrechen vor Ort entrinnen konnte, | |
wird unter den Bedingungen einer durch und durch medial vermittelten | |
Gegenwart von ihnen wieder eingeholt: „auf dem bildschirm / siehst du | |
deinen tod, dem du entgangen bist. / das kino der mörder, sein ablicht. in | |
deinem gesicht“. Das Internet ist „kino der mörder“ und „kino der opfe… | |
gleichermaßen – das Medium der Kriegsführung ebenso wie eines der | |
Erinnerung und das letzte Fenster zu einer verlorenen Heimat, in der die | |
Landschaft sowohl zur Zeugin als auch zum Objekt von Verbrechen wurde, | |
deren Spuren sich nur den Wissenden noch mitteilen. | |
## Das Grab deines Bruders | |
Othmanns Verse strotzen nur so vor zeitgeschichtlichen, literarischen und | |
kulturellen Bezügen. Heißt es etwa im Gedicht „glaub mir“: „In einem | |
anderen leben hängt dein / zopf auf einer leine wie ein stück wäsche / über | |
dem grab deines bruders“, wird damit auf die jesidische Tradition | |
angespielt, sich als Trauerritual die Zöpfe abzuschneiden. | |
Wenngleich die Gedichte im Dienst einer spezifischen zeithistorischen | |
Zeugenschaft stehen, wären sie mit dem Label „JesidInnen-Lyrik“ nicht | |
ausreichend erfasst. Ihrem Ansatz und Charakter nach sind sie getragen von | |
einem emphatischen Universalismus und bereichern die Gegenwartslyrik mit | |
ihrer Ernsthaftigkeit und kunstvoll arrangierten Zugänglichkeit um einen | |
ganz neuen Ton. | |
In diesem Sinne stellen die Gedichte Fragen wie: „wenn die soldaten kommen, | |
wohin rennst du, wenn der mais schon abgeerntet ist“, oder: „könntest du | |
noch einmal zurückkehren, was würdest du mitnehmen“. Was die Autorin als | |
Antwort auf letztere Frage komponiert, liest sich stellenweise („den | |
türrahmen, in dessen lack du deinen namen / geritzt hast, mit einem Nagel“) | |
nicht von ungefähr wie Günter Eichs „Inventur“ im Migrationszeitalter. | |
Überhaupt klingen gerade Eich und die Traditionsräume deutschsprachiger | |
Naturlyrik erkennbar an, ohne dass die Verse auch nur einen Hauch von | |
Epigonalität verströmen. Sie positionieren sich vielmehr gegen überlieferte | |
Denkfiguren. | |
## Die Vögel schweigen | |
Galt zum Beispiel Wilhelm Lehmann der Baldrian in seinem Gedicht „Heile | |
Welt“ noch als Zeichen einer im Angesicht der Weltkriegsverbrechen trotzdem | |
intakten Schöpfungsordnung, wissen Othmanns Gedichte: „kein bund baldrian | |
wird dir helfen“. Zwar möchten auch die hier inszenierten Stimmen nicht | |
ohne den Trost der Bäume leben und „jeden vogel noch einmal zum abschied | |
küssen“; während jedoch in Eichs Gedichten wiederholt die Hoffnung geäuße… | |
wird, die naturmagische Himmelsschrift der Vögel einst entziffern zu | |
können, hat der Krieg in „die verbrechen“ die Bäume niedergebrannt, | |
schweigen die Vögel, verirren sich und bleibt „der himmel immer eine lüge / | |
unversehrt blau“. | |
In der traditionell als subjektiv geltenden Gattung Lyrik setzt Othmann | |
gerade nicht beim „Ich“ an. Sie wählt für die meisten Gedichte ein | |
lyrisches Du und damit eine höchst variable Form der Ansprache, die über | |
das Selbstgespräch hinaus kollektive Erinnerungsarbeit leistet. Dass das | |
Ich ein anderer sein kann und umgekehrt, macht das universalistische | |
Programm dieser Texte aus. Daraus ist einiges zu lernen. | |
18 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Böttcher | |
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