# taz.de -- Genozid an Jesiden: Niemals Normalität | |
> Die Bedrohung gegen die jesidische Gemeinschaft dauert an. Auch wenn die | |
> Aufarbeitung sechs Jahre nach Shingal endlich begonnen hat. | |
Bild: Ein Camp für Binnengeflüchtete oder „Internally Displaced Persons“ … | |
Sechs Jahre ist es nun her, dass Kämpfer des sogenannten [1][Islamischen | |
Staats in Shingal einfielen] und einen Genozid an den Ezîd*innen verübten. | |
Die Männer und alten Frauen erschossen sie, die Frauen und Kinder nahmen | |
sie mit als Sklav*innen für die Kämpfer des IS. Die Jungen dienten ihnen | |
als Kindersoldaten, die Frauen und Mädchen vergewaltigten sie. Der Genozid | |
an den Ezîd*innen ist auch ein Femizid. Am 15. August jährt sich auch das | |
Massaker in dem êzîdischen Dorf Koco zum sechsten Mal, das Dorf, aus dem | |
die [2][Nobelpreisträgerin Nadia Murad] kommt. | |
Auch wenn der Genozid heute keine Schlagzeile mehr ist, hat er nicht an | |
Aktualität verloren und ist auch nicht vorbei. Noch immer leben Ezîd*innen | |
in den IDP-Camps im Irak in mehrmals geflickten UNHCR-Zelten unter | |
menschenunwürdigen Bedingungen. Noch immer fehlt es vielen Überlebenden an | |
psychologischer Unterstützung. Noch immer können die Ezîd*innen nicht nach | |
Shingal zurückkehren. Türkische Kampfflugzeuge bombardieren Shingal. Am | |
Boden überfallen IS-Zellen noch immer Ezîd*innen und verschiedene Gruppen | |
kontrollieren das Gebiet. Außerdem sind große Teile der Infrastruktur | |
zerstört und Sprengfallen noch nicht geräumt. Noch immer werden 2.800 | |
Frauen und Kinder vermisst. Noch immer laufen IS-Täter*innen frei herum. | |
Dieser Genozid ist wie alle anderen Genozide keine Naturgewalt. Auch wenn | |
es vielleicht von mitteleuropäischen Wohnzimmern aus im Fernsehen nicht so | |
ausgesehen haben mag – der Staub, die schwarzen Flaggen, die zotteligen | |
Bärte der IS-Kämpfer, die lachend abgeschnittene Köpfe in die Kamera | |
hielten –, ist der Genozid von Menschen gemacht und hätte wie alle anderen | |
Genozide verhindert werden können – verhindert werden müssen. Allein von | |
den 147 Unterzeichnern der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung | |
des Völkermords, die nach der Schoah 1948 verfasst wurde, um zukünftige | |
Genozide zu verhindern. | |
Wenn es um Genozide geht, gilt weder verjährt noch zu weit weg. Jeder | |
Staat, der sich als Rechtsstaat versteht, ist in der Pflicht, die | |
Täter*innen vor Gericht zu bringen, egal welchen Pass sie haben oder wo sie | |
sich befinden. Dass das kaum und nur sehr langsam geschieht, ist die zweite | |
Tragödie. | |
Diese Kolumne hätte ich genauso vor einem Jahr schreiben können. Die Lage | |
der Ezîd*innen hat sich nicht groß verändert. Zwar gibt es in [3][Frankfurt | |
am Main mittlerweile den weltweit ersten Prozess, bei dem der Tatbestand | |
des Genozids mitverhandelt wird] und im Shingal hat man begonnen, | |
Massengräber zu öffnen, doch êzîdisches Leben ist sowohl im [4][Irak | |
(Luftangriffe, IS-Zellen)], als auch in Syrien (besonders nach dem | |
Einmarsch des türkischen Militärs mit seinen islamistischen Söldnern) und | |
der Türkei (Übergriffe, Friedhofsschändungen) immer noch bedroht. | |
Wenn ich diese Kolumne 2021 wieder im selben Wortlaut schreiben muss, hat | |
die Weltgemeinschaft wieder einmal versagt. Dieser bereits sechs Jahre | |
andauernde Zustand ist für Ezîd*innen keine Normalität und darf auch vom | |
Rest der Welt nicht als Normalität hingenommen werden. | |
12 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Zentralrats-Vorsitzender-Telim-Tolan-ueber-die-Situation-der-Jesiden/!5035… | |
[2] /Friedensnobelpreistraegerin-Nadia-Murad/!5541794 | |
[3] /Prozess-gegen-IS-Anhaenger/!5682961 | |
[4] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden/!5692931 | |
## AUTOREN | |
Ronya Othmann | |
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