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# taz.de -- Performance als Livestream: Spuren des Widerstands
> In „Das nackte Leben“ verarbeitet Serfiraz Vural spezifisch weibliche und
> spezifisch kurdische Lebenserfahrung zu einer Erzählung des Widerstands.
Bild: Serfiraz Vural verdichtet unterschiedliche Lebensgeschichten zu einer gem…
Hamburg taz | Wenn im Folterkeller der Glaube an Freiheit und Gerechtigkeit
so groß ist, dass man wütend wird auf alle, die unter der Gewalt aufgeben
und zusammenbrechen, dann hat das etwas Absurdes. Genauso ist es, wenn man
noch mit der Waffe in der Hand, für Frieden kämpfend, nach menschlichem
Umgang fragt. Auch gegenüber dem Feind. In „Das nackte Leben“ geht es um
solche Widersprüche – um solche Brüche.
Die Solo-Performance von Serfiraz Vural wird am Freitag aus dem Hamburger
Lichthoftheater gesendet. Sie erzählt die Lebenswege fünf kurdischer
Frauen, die Gewalt und Folter in der Türkei überlebt haben und heute in
Deutschland leben. Die Details der erlebten Gewalt sollen nicht im Fokus
stehen, sondern die Frage, wie diese Erlebnisse das politische Denken der
Frauen und ihr weiteres Leben geprägt haben.
So wird eine der Geschichten etwa aus der Perspektive der viel später
geborenen Tochter erzählt. Die Vergangenheit bahnt sich ihren Weg in die
Gegenwart den Frauen und in die ihrer Familien: „Wir reden nicht darüber,
deshalb kann es nicht heilen, aber die Wunden sind spürbar“, sagt die
Tochter in dem Stück.
„Das nackte Leben“ sind fünf Lebensgeschichten, die in den 80er-, 90er- und
2000er-Jahren spielen. Sie sind als generationsübergreifender Dialog
angelegt, lassen Ausschnitte des Erlebten zueinander sprechen. Die Texte
ergänzen einander. So entsteht ein Puzzle aus Verlust und Wiederfinden,
Trauern und Hoffen, Verdrängen und Erinnern.
## In marxistischen Vereinen aufgewachsen
Serfiraz Vural ist Soziologin, Theaterpädagogin und eben Performerin. In
kleineren Projekten hatte sie mit Freundinnen in Berlin erste Erfahrungen
gesammelt. Mittlerweile spielt sie immer wieder in Stücken mit, so
beispielsweise in der Performance „Blutsbrüder“ von Jochen Roller. Zu
Themen wie Feminismus und Dekolonisation, zu Fluchtgeschichten und dem
Hinterfragen des Weißseins sucht sie in ihrer Arbeit ästhetische Zugänge.
Die Spannung zwischen Begrenzung und Widerstand bildet dabei eine Art
Leitmotiv.
Vural ist selbst Kurdin. Dass die Fragen des Stücks auch in ihrem Leben
eine Rolle spielen, habe das Stück erst möglich gemacht, sagt sie. In
marxistischen Vereinen aufgewachsen und politischen Netzwerken
sozialisiert, hatte sie den Austausch mit anderen Kurdinnen gefunden – und
den Gedanken daran, was diese Frauen weitergeben können.
Die fünf Frauen, die sie für „Das nackte Leben“ interviewte, kannte sie
vorher allerdings nicht. Ihre eigene Biografie, der Bezug zur kurdischen
Identität sowie die gemeinsame Erfahrung, in Deutschland stets als türkisch
gelesen zu werden, halfen dabei, ein Vertrauensverhältnis zu schaffen.
Obwohl Vural nun in dem Stück für die Frauen spricht, wahrt sie Distanz:
Sie liest vor, sie übersetzt und sie dekodiert. „Man kann es nicht
verstehen, wenn man es nicht erlebt hat“, sagt sie, „dessen bin auch ich
mir bewusst.“
Das Bühnenbild ist minimalistisch gehalten. Zwischen Tisch, Hocker oder
Notenständer sollen keine Begrenzungen entstehen, keine künstlichen Hürden.
Ein bisschen nackt eben. In der Performance stehen die Texte im
Vordergrund. Sie sind dicht, zusammenhängende Geschichten, statt
fragmentierter Halbsätze. Das schafft Übertragbarkeit.
Die Erzählungen von Widerstand und Trauma lassen sich auch auf andere
politische Bewegungen projizieren, Nuancen in den chronologisch
beschriebenen Lebenswegen und Gefühlen der Frauen womöglich auf einen
selbst. Was weiß ich eigentlich von diesen Themen? Wie bin ich aufgewachsen
und was hat das mit mir gemacht?
Vurals Ziel ist es, über die Geschichten der fünf Frauen ins Gespräch zu
kommen. In den Communitys stehe das Wissen über solche Schicksale immer
irgendwie im Raum, aber man spreche sie nicht an. „Das nackte Leben“ soll
einen Moment von Verbindung in der Diaspora schaffen, sagt Vural. Und immer
wieder eben auch: Empowerment.
Für alle, die dieses Gefühl nicht kennen, weil ihre Biografien in
irgendeine mehrheitsdeutsche Normalität passen oder weil sie nicht in den
Vereinshäusern der kurdischen Communitys unterwegs sind, ist die
Veranstaltung im Lichthof also auch eine Art Gesprächsangebot. Die
Geschichten, die hier erzählt werden, begegnen einem nicht alltäglich.
Erfahrungen aus dem organisierten Widerstand sind kein Thema für ein
Gespräch an der Supermarktkasse, findet das Taktgefühl – und auch nicht
unbedingt ein Thema für die großen Bühnen, findet die deutsche
Theaterlandschaft.
Auch Vural beschreibt eine Hemmschwelle beim Nachfragen, eine Unsicherheit
über den richtigen Zugang zu diesen harten Geschichten. In „Das nackte
Leben“ gibt es diese Hemmungen allerdings nicht, die Performance erzählt
schonungslos. „Es ist eben das, was es ist“, sagt Vural.
Aber was ist es denn eigentlich? Kunst oder Politik? Vural sagt, bei „Das
nackte Leben“ gehe es mehr um ein politisches Gefühl als um politische
Statements. Primär handele die Performance von Widerstandspraktiken und
Resilienz. Politisch sei es insofern, dass es in sich feministisch sei und
den Teil einer Bewegung abbilde, die den politischen Glauben an ein
sozialistisches Kurdistan, an Gleichberechtigung und Solidarität trage.
Die Texte richten sich gegen das Patriarchat und männliche Herrschaft,
zeigen aber auch, wie bei Krieg und Selbstverteidigung ein Moment entsteht,
der sich patriarchalen Logiken nicht vollends entziehen kann. Auch in den
Erzählungen aus widerständischen Kreisen zeichnet sich ein Bild von Härte
ab, es entstehen Hierarchien und der Gedanke, die Welt in „Gut“ und „Bös…
einteilen zu können – ganz ohne ein „Dazwischen“.
In „Das nackte Leben“ geht es wie gesagt um Widersprüche und Brüche: „I…
glaube nicht, dass das Sadisten sind“, sagt eine Frau im Stück über die
Folternden, „aber sie glauben, darüber entscheiden zu können, wer leben
darf und wer sterben muss.“ Machismo. Eine andere reflektiert, wie
Vergewaltigungen als Foltermethode, um die Feinde zu demütigen, nur
funktionieren könne, wenn patriarchale Denkmuster ihnen zugrunde liegen.
Eine Frage der Ehre?
In den Schicksalen der fünf Frauen findet das Stück zu allgemeineren
Fragen: Welche Geschichten tragen unsere Mitmenschen in sich? Wer erzählt
sie? Was machen Gewalterfahrungen mit dem Blick auf die Welt? Was bedeutet
es, mit einem Trauma in unserer Gesellschaft zu leben? Wie erinnern wir?
Und eben nicht zuletzt auch: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?
19 Mar 2021
## AUTOREN
Johanna Sethe
## TAGS
Performance-KünstlerIn
Performance
Hamburg
Feminismus
Kurden
Türkei
Schwerpunkt Syrien
Kurden
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