# taz.de -- Preisträgerin über Stereotype: „Ich wurde frei erzogen“ | |
> Bjeen Alhassan hilft Frauen mit Fluchtgeschichte, sich in Deutschland | |
> zurechtzufinden. Ein Gespräch über Bildung, Diskriminierung und Angela | |
> Merkel. | |
Bild: Hat sich auch von einem AfD-Professor nicht unter kriegen lassen: Bjeen A… | |
taz: Frau Alhassan, Sie haben neulich Angela Merkel getroffen. War Sie | |
Ihnen sympathisch? | |
Bjeen Alhassan: Tatsächlich ja! Sie strahlt sehr positive Vibes aus, ist | |
irgendwie lustig und hat viel über die Rolle der Frau in der Gesellschaft | |
geredet. | |
Was gefällt Ihnen besonders daran, dass Sie für Ihr Online-Projekt „Lernen | |
mit Bijin“ den Nationalen Integrationspreis 2020 bekommen haben? | |
Die Anerkennung für Menschen mit ähnlichen Geschichten wie die meine. Auch | |
die Frauen in der Facebook-Gruppe haben sich unglaublich gefreut und waren | |
stolz darauf, Teil dieses Projektes zu sein – es war, als hätten auch sie | |
diesen Preis bekommen. Das gibt mir Hoffnung, dass ich tatsächlich helfen | |
kann. | |
Sie helfen ausschließlich Frauen, die – wie Sie – eine Fluchtgeschichte | |
haben, sich in Deutschland einzuleben. Was bedeutet Feminismus für Sie? | |
Ich komme ja aus dem Nahen Osten. Daher gibt es Entscheidungen, die nach | |
meiner Erfahrung überhaupt nicht selbstverständlich sind für Frauen. | |
Beispielsweise das Recht zu studieren, aber auch das Recht, über den | |
eigenen Aufenthaltsort zu entscheiden. | |
Wie war das bei Ihnen? | |
In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, in Rojava, gab es keine | |
Universität. Meine Eltern hatten kein Problem damit, dass ich zum Studieren | |
nach Damaskus umziehe. Für mich bedeutet Feminismus, dass die Tochter das | |
gleiche Recht auf Bildung hat wie der Sohn. | |
Wie kommt es, dass Sie so denken und auch andere Frauen ermächtigen wollen? | |
Mir wurde immer gesagt: Bjeen, du musst was lernen. Vor allem, weil ich in | |
Syrien als Kurdin in der Minderheit war. Ich hatte nicht die gleichen | |
Rechte wie andere Syrer. Das machte Bildung als Möglichkeit, mich zu | |
emanzipieren und mir ein gutes Leben aufzubauen, umso wichtiger. Dieses | |
Wissen möchte ich weiterleiten, denn Wissen ist Power. | |
Wie hat sich Ihr kurdischer Hintergrund in Syrien bemerkbar gemacht? | |
Ich bin zur Schule gegangen in einem Land, in dem Arabisch gesprochen wird. | |
Meine Muttersprache ist Kurdisch. Ich habe Arabisch dann mit vier oder fünf | |
Jahren gelernt. | |
Sind Sie besonders ehrgeizig? Die Sprachen, die Sie sprechen, wollen ja | |
gelernt werden – Arabisch, Kurdisch, Deutsch. | |
Und Englisch. Da ich mit zwei Sprachen aufgewachsen bin, entwickelt sich | |
vielleicht eine Art Feingefühl für Sprachen, für die Mechanismen von | |
Sprachen und die Skills, wie ich diese Sprachen schnell lernen kann. Aber | |
für mich haben Sprachen auch sehr viel mit dem Gefühl von Heimat zu tun. | |
Als ich in Deutschland ankam, war mir klar, dass ich Deutsch lernen muss, | |
um mich hier zu Hause zu fühlen. | |
Was bedeutet Ankommen für Sie? | |
Wenn mich ein Mensch auf der Straße anspricht, möchte ich das verstehen, | |
ich möchte antworten können; ich möchte die Stimmen um mich herum auf der | |
Straße verstehen. Wenn ich das kann, fühle ich mich mental und körperlich | |
angekommen. Ankommen bedeutet aber auch, den Ortswechsel zu akzeptieren und | |
von beiden Kulturen – der vergangenen und der jetzigen – das Beste mit in | |
seine Lebensweise aufzunehmen und sich irgendwie mit dem eigenen Ort | |
zwischen den Kulturen anzufreunden. | |
Das klingt einfach in der Theorie. Ist es das auch in der Praxis? | |
Es gibt immer noch frustrierende Momente, in denen ich denke: Okay, ich | |
werde in diesem Land niemals akzeptiert sein. Und selbstverständlich erlebe | |
ich Diskriminierung, wie alle anderen auch. Doch nur, weil eine Person sich | |
mir gegenüber schlecht verhält, heißt das nicht, dass es keine offenen, | |
gutherzigen Menschen gibt. Das versuche ich, mir immer wieder ins | |
Gedächtnis zu rufen. | |
Wird die Diskriminierung weniger, je länger Sie hier sind? | |
Nein: Die Blicke, die bescheuerten Fragen, die Schwierigkeiten bei | |
Bewerbungen – das bleibt. Absagen wie „Wir stellen nur deutschsprachige | |
Menschen ein“ oder „Sie haben keine Arbeitserfahrungen in Deutschland“ | |
kommen so häufig vor. Obwohl ich während meines Masters in Deutschland viel | |
gearbeitet habe und meinen Abschluss ja hier gemacht habe – so schlecht | |
kann mein Deutsch also nicht sein. | |
Sie sprechen fließend Deutsch. | |
Trotzdem nehmen die Menschen an, dass ich kein Deutsch kann. Diese | |
Vorurteile zu ertragen, ist unglaublich anstrengend. Dass ich erst 2014 | |
hergekommen bin, schreckt viele Menschen ab. Gerade meine Kommilitonen | |
waren schlimm, sie wollten nicht mit mir zusammenarbeiten, keine | |
Hausarbeiten, keine Präsentationen. | |
Wieso? | |
Weil es ja mehr Arbeit für sie sein könnte, wenn sie mal meine Grammatik | |
verbessern müssten. Dabei hätten die von mir auch viel lernen können, denn | |
ich habe andere Ideen, andere Denkansätze, eine andere Kultur. Meine | |
Kommilitonen an der Hochschule in Emden wollten jedoch gute Noten und in | |
ihrer Komfortzone bleiben. Das war für mich eine sehr schlimme Zeit, | |
besonders die Prüfung meiner Masterarbeit. | |
Was ist da passiert? | |
Für meine Masterarbeit wollte ich eine Art Online-Training für Menschen in | |
Syrien erstellen, bei dem hochqualifizierte Menschen aus Deutschland ihr | |
Know-how digital weitergeben können. Problematisch war, dass der Professor, | |
der meine Arbeit begleitet hat, Vorsitzender der AfD in Emden war. | |
Wieso haben Sie sich denn ausgerechnet diesen Prüfer ausgesucht? | |
Ich war da irgendwie ein bisschen naiv. Kein anderer Prof hat so schnell | |
auf meine Anfrage geantwortet und dann habe ich klar mit ihm über seine | |
politische Ausrichtung gesprochen. Er hat gesagt, dass er nicht | |
ausländerfeindlich sei, dass es um wissenschaftliches Arbeiten ginge und | |
politischen Meinungen da nicht relevant seien. | |
Und hat er Wort gehalten? | |
Was soll ich sagen, er hat mich auflaufen lassen. Während meines | |
Ausarbeitungsprozesses habe ich ihn monatlich auf dem Laufenden gehalten | |
und gefragt, was er von der Arbeit hält. Er sagte ständig, dass alles super | |
sei. Zwei Tage vor meinem Kolloquium erzählt er mir dann, welche wichtige | |
Thematik ich nicht eingebracht habe: Ja, guten Morgen, dachte ich mir dann! | |
Wie war das Kolloqium? | |
Es war schockierend, wie er mit mir geredet hat. Er hat mir ein Ultimatum | |
gesetzt: Entweder ich nehme die 4.0 oder ich falle durch. Ich habe mich für | |
die 4.0 entschieden. Er wusste, dass mir keine Wahl blieb, weil ich keine | |
Zeit hatte, um meine Arbeit zu wiederholen. Ich bin eine Woche nach dem | |
Kolloquium für ein Praktikum nach Bayern umgezogen. | |
Ich dachte, Sie haben Ihren Master mit 2,3 abgeschlossen – stand jedenfalls | |
im Internet. | |
Ja, weil meine Noten zuvor so gut waren, habe ich immer noch eine gute | |
Gesamtnote. Ich war danach einfach froh, das alles hinter mir zu lassen. | |
Wie war Emden als Studienort? | |
Das ist auf jeden Fall nicht der Ort, an dem ich dauerhaft wohnen möchte. | |
Es ist irgendwie zu klein. Auch waren viele meiner Kommilitonen sehr | |
konservativ. Fragen wie „Du bist ja Moslem, warum trägst du Schmuck?“ kamen | |
nicht selten. Ich bin irgendwann zum Arzt gegangen, weil ich keine | |
Motivation mehr hatte, zur Uni zu gehen. Jeden Tag aufzustehen, fiel mir | |
immer schwerer. Das Gefühl, angenommen zu werden und in meinem Studiengang | |
mit Menschen reden und quatschen zu können, hatte ich nicht. | |
Hatte die Stadt auch positive Seiten? | |
Klar, Emden hat mir viele tolle Möglichkeiten geliefert. Ich konnte als | |
wissenschaftliche Hilfskraft arbeiten, auch als Dolmetscherin und | |
Übersetzerin für Geflüchtete, und habe wunderbare Menschen kennengelernt, | |
ohne die ich heute nicht hier wäre. | |
Sie sind 2014 mit Ihrer Familie aus dem Bürgerkriegsland Syrien geflohen. | |
Darf ich Sie nach dem Krieg fragen? | |
Nein. | |
Okay. Sehen Sie sich als Vorbild für gelungene Integration? | |
Kann sein; ich hatte jedenfalls sehr gute Chancen, weil mein Bachelor hier | |
anerkannt wurde. Vielleicht war es für mich einfacher als für andere. Und | |
ich hatte meine Schwester als Vorbild, die bereits einen Master in | |
Architektur hatte. Aber: Wie ist das in Familien, in denen die Kinder keine | |
Vorbilder haben, die ihnen den Wert von Bildung und der damit | |
einhergehenden Selbständigkeit zeigen können? Deswegen habe ich diese | |
Facebook-Gruppe gegründet, in der ich ein Vorbild für viele Frauen sein | |
kann, die dann sehen können: Es ist möglich. | |
Sie haben Ihr Projekt bei der Preisverleihung im Kanzleramt ganz souverän | |
vorgestellt. Woher kommt Ihr Selbstbewusstsein? | |
Ich war als Kind schon eine Labertasche und wurde darin nicht begrenzt. Mir | |
wurde nie gesagt, dass ich mich mädchenhaft verhalten soll. Ich wurde sehr | |
frei erzogen und habe natürlich meine Schwester als Vorbild, die mir | |
zeigte, dass Lernen und Bildung wichtig ist. Außerdem habe ich eine | |
Botschaft. | |
Welche ist das? | |
Ich möchte Menschen, die falsch über Frauen in Syrien oder kurdische Frauen | |
denken oder einfach keine Ahnung haben, zeigen, was Frauen wie ich leisten | |
können. Ich möchte ein gutes Beispiel darstellen und ich hoffe, dadurch | |
Stereotype zu durchbrechen. Natürlich repräsentiere ich nicht alle Frauen, | |
denn wir sind vielseitig. Vielleicht repräsentiere ich aber so ein bisschen | |
die Region und dieses Bewusstsein für meine Verantwortung macht mich stark. | |
Hinweis: Wegen einer vom AfD-Kreisvorsitzenden Ostfriesland Prof. Reiner | |
Osbild gegen Bjeen Alhassan erwirkten einstweiligen Verfügung haben wir | |
einen Satz aus diesem Interview entfernt. | |
26 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Leonie Theiding | |
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