# taz.de -- Aktuelle Romane über Rückkehr: Mit schwerem Gepäck | |
> Den aktuellen Büchern von Saša Stanišić, Didier Eribon, Bov Bjerg, Frank | |
> Witzel ist eines gemein: Erzähler kehren an den Ort des Heranwachsens | |
> zurück. | |
Bild: Gefühlserbschaften: die alte Bundesrepublik in den 70er Jahren | |
Jemand bricht in die alte Heimat auf, um sein Verhältnis zu dem Ort, aus | |
dem er kam, zu bedenken und sich seines Lebenswegs zu versichern. Bei | |
Erzählungen über Familienerinnerungen und Gefühlserbschaften dominiert | |
derzeit das Modell einer Rückkehr. | |
Großen Erfolg hatte mit diesem Modell zuletzt [1][Saša Stanišić mit seinem | |
Buch „Herkunft“], das genauso gut „Rückkehr nach Višegrad“ heißen k�… | |
Und Maßstäbe gesetzt hat [2][Didier Eribon mit „Rückkehr nach Reims“], | |
einem Buch, das inzwischen auch in Deutschland überraschend viele Menschen | |
gelesen haben. Wer erfahren möchte, wie soziologisch versiert und | |
menschlich unerschrocken man dort anfangen kann zu graben, wo man steht, in | |
der eigenen Familiengeschichte, kann das tatsächlich bei Eribon studieren. | |
Während Saša Stanišić sich nach dem Zerfall Jugoslawiens erst neu in der | |
alten Heimat orientieren muss, nutzt Eribon die Dramaturgie einer Rückkehr, | |
um vermeintliche eigene Gewissheiten zu revidieren. Lange hat er sich sein | |
Leben entlang den Maßgaben einer gradlinigen Befreiungsgeschichte erzählt: | |
Als Schwuler verließ er die homophobe Provinz, um in Paris seine sexuelle | |
Identität zu leben. Nun entdeckt er aber eine bis dahin verdrängte zweite | |
Geschichte: die Aufsteigergeschichte des jungen Arbeiterkindes, das er war | |
und das sich von seinem Herkunftsmilieu radikal distanzieren musste, um | |
Intellektueller zu werden. Seine Herkunft aus der Arbeiterklasse musste er | |
auf der Universität verbergen. | |
Das erzählerische Modell einer Rückkehr birgt eine Gefahr: die, sentimental | |
zu werden. Das wird Eribon an keiner Stelle, aber da ist etwas anderes. Die | |
Attraktivität dieses Buchs liegt wohl auch daran, dass es bei aller | |
geschilderten Misere von Gefühlstaubheit und Sprachunfähigkeit auch etwas | |
Beruhigendes hat. | |
## Melancholie, Habitus, Bourdieu | |
Die dargestellten Probleme tauchen nur als bereits analysierte auf. Schnell | |
fallen die einschlägigen, Eribon sagt: „kraftvollen“ Begriffe: Melancholie, | |
gespaltener Habitus, Bourdieu. Gleich zu Beginn ist auch von „Aussöhnung“ | |
die Rede. Und überhaupt vermittelt der Erzählrahmen viel Souveränität. Es | |
ist der Erzähler, der den Zeitpunkt der Rückkehr und ihren Verlauf | |
bestimmt, er behält das Heft in der Hand. | |
Was aber, wenn sich diese Souveränität nicht einstellt? Und was, wenn so | |
eine Rückkehr ein Deutscher unternimmt, bei dem die spezifisch deutschen | |
Erbschaften von Kriegsschuld und Nationalsozialismus noch hinzukommen? | |
Dann ist man bei [3][Bov Bjerg und seinem aktuellen Roman „Serpentinen“]. | |
Eribon begreift seine Distanzierung von seinem kommunistisch geprägten | |
Arbeitermilieu teilweise als Verratsgeschichte. Aber gegen diesen Begriff | |
Verrat sträubt sich natürlich zu Recht alles, wenn es um die Abgrenzung von | |
handfesten oder auch nur emotionalen Erbschaften aus dem | |
Nationalsozialismus geht. | |
Und auf so einen Hintergrund stößt die Mehrheit der Deutschen schnell, | |
sobald sie tatsächlich in der Familiengeschichte zu graben beginnt – wobei | |
der Erzähler bei Bjerg eher von ihr verfolgt wird. | |
Die Hauptfigur bei Bov Bjerg ist wie Eribon Soziologe. Auch er hat die | |
Begriffe drauf, um das psychologische Drama einer Aufsteigergeschichte zu | |
analysieren. Doch im Unterschied zu Eribon hilft ihm das gar nichts. Seine | |
Rückkehr in die Orte seines Heranwachsens im Schwäbischen, die er im Auto | |
und mit seinem pubertierenden Sohn als Beifahrer unternimmt, hat etwas | |
Zielloses. | |
„Es war also möglich, sich zu befreien“, denkt er einmal. Doch das bezieht | |
sich auf Veronika, eine frühere Mitschülerin, die er arg gehänselt hat und | |
die inzwischen eine erfolgreiche Geschäftsfrau in den USA geworden ist. Für | |
ihn selbst ist eine Befreiung nicht drin. Aussöhnung erst recht nicht. Zum | |
Motor der Geschichte wird vielmehr die Angst, die eigenen Beschädigungen an | |
den Sohn weiterzugeben. | |
„Geht“, sagt der nur, wenn er gefragt wird, ob er friert oder, an anderer | |
Stelle, ob es sehr weh tut, als er sich an einem Holzsplitter verletzt. Ein | |
Beispiel für das subtile atmosphärische Netz, das Bjerg unter die | |
ablehnende Rotzigkeit des Erzählers legt (bei einem renaturalisierten Bach | |
fällt ihm nur die Wendung von einem „prototypischen Faschismusbächlein“ | |
ein, Heimat halt). | |
## Kriegsenkel, Aufsteiger | |
Denn: „Geht“, so reden Jugendliche ja tatsächlich, und es bleibt in der | |
Schwebe, ob der Sohn hier nur den typischen Heranwachsenden gibt oder ob | |
die Gefühlserbschaften von Schmerzunterdrückung und Sprachlosigkeit schon | |
auf ihn übergegangen sind. | |
Bov Bjerg stattet seinen Erzähler mit einer handfesten Depression aus, dem | |
„Schwarzen Gott“, und die Lesart, dass eine Familiendisposition dazu | |
besteht – seit Generationen begehen die Väter der Familie Suizid –, liegt | |
nahe. Doch das ist, auch wenn es seltsam klingt, eher die beruhigende | |
Lesart, weil sie eine so schön runde Erklärung bietet. | |
Beunruhigender und damit auch interessanter ist es, das innere Drama dieses | |
Vaters auf solche Kontexte wie Kriegsenkelprobleme und | |
Selbstverbergungstaktiken in der Aufsteigergesellschaft zu beziehen. Dann | |
wird Bjergs Roman zum Porträt einer Boomer-Generation, die schweres Gepäck | |
zu tragen hat. | |
Sobald sie gräbt, stößt sie auf verdeckte Geschichten von Vertreibungen, | |
von Schuld und falschen Heimatdiskursen. Und sobald sie über ihren eigenen | |
Lebenslauf nachdenkt, stellt sie fest, dass die Hoffnung, dem allem durch | |
sozialen Aufstieg zu entkommen, die Rückseite einer Selbstverleugnung hat. | |
## Die Vergangenheit verändern | |
Wenn man hinzunimmt, dass solche Mechanismen zu durchschauen nicht immer | |
dabei hilft, sie auch zu verarbeiten, wird die Verzweiflung des Vaters, das | |
alles wenigstens nicht an sein Kind weitergeben zu wollen, geradezu | |
schockartig nachvollziehbar. | |
Eine erzählerische Rückkehr an den Ort der Herkunft kann nicht nur die | |
Gegenwart transparenter machen, sondern (klassischer Gedanke Marcel | |
Prousts) auch die Vergangenheit verändern. Sie wird zupackender, kommt | |
näher, wird, wenn Aussöhnung problematisch ist wie bei Bjerg, dann aber | |
auch verhängnisvoller, auf jeden Fall rührt sie an den Kernbereich der | |
eigenen Identität und der Schwierigkeiten mit ihr. „Familienbla“ heißt es | |
in „Serpentinen“. | |
## Suche nach der eigenen Trauer | |
Oder aber die Vergangenheit wird schräger, verliert das für die alte | |
Bundesrepublik so lange gültige unhinterfragt Normale, wird geheimnisvoller | |
und damit etwas, in dem man sich auch verlieren kann. | |
So geht es Frank Witzel in seinem Memoir „Inniger Schiffbruch“, in dem die | |
Rückkehr an den Ort der Herkunft noch einmal anders inszeniert wird, nicht | |
als in sich abgeschlossene Reise, sondern als Suche nach der eigenen Trauer | |
nach dem Tod des Vaters und dabei als anhand von Träumen, Familienfotos und | |
sonstigen Überlieferungen unternommenes mikroskopisches Erinnerungsprojekt. | |
Man hat beim Lesen von „Inniger Schiffbruch“ schon auch mit | |
Abwehrmechanismen zu kämpfen, als würde das Buch einem manchmal zu nahe | |
kommen. Aber man hat dann auch viel zu erzählen. Etwa die Episode, als die | |
Eltern sich endlich ihr „Traumhaus“ leisten konnten und viele Möbel der | |
Vorbesitzerin einfach übernahmen, was sich der Erzähler nicht erklären | |
kann: „Oder löste die Vorstellung, endlich etwas Eignes zu haben, in ihnen | |
ein Gefühl der Überforderung, vielleicht sogar der Panik aus, sodass sie | |
das Eigene unwillkürlich als uneigen behandelten, um es überhaupt ertragen | |
zu können?“ | |
## Abgrenzung und Aussöhnung | |
Spätestens solche Episoden zeigen, dass man selbst bei solchen | |
Klischeemotiven wie dem Traum vom Eigenheim nicht von einem kollektiv | |
geteilten Erinnerungspool ausgehen sollte. Interessant werden | |
Rückkehrerzählungen, wenn sie, wie bei Frank Witzel, Spezifisches zutage | |
fördern. | |
Die großen Themen des erzählerischen Rückkehrmodells wie Abgrenzung, | |
Aussöhnung, Gefühlserbschaften und auch fragwürdige Überlieferungen | |
(Johanna Haarers schon für die Nazi-Erziehung von Säuglingen einschlägige | |
Buch „Die Mutter und ihr erstes Kind“ kauft sich die Mutter des Erzählers | |
arglos zur Geburt ihres Sohnes) wird von Frank Witzel in ein kleinteiliges | |
Mosaik von Kurzessays und manchmal auch nur Notizen voller Fragen | |
übersetzt. | |
Diese Rückkehr hat kein Ende. Der Versuch, die eigene Herkunft zu | |
durchschauen, wird hier zum (eigentlich unabschließbaren) erzählerischen | |
Drama. | |
2 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Herkunft-von-Saa-Staniic/!5575589 | |
[2] /Didier-Eribon-ueber-franzoesische-Zustaende/!5321235 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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