| # taz.de -- Neuer Roman von Elke Schmitter: Löcher im Gewebe | |
| > Elke Schmitter erkundet in ihrem Roman „Inneres Wetter“ die Verfasstheit | |
| > einer Bildungsbürgerfamilie. Darin tritt Unverdautes zwischen | |
| > Geschwistern zutage. | |
| Bild: Schreibt über Statusquatsch und verdeckte Konflikte in der Familie: Elke… | |
| Wenn Familien ein Gewebe bilden, das die Gesellschaft zusammenhält, dann | |
| sind die Kupfers ein solides, aber reichlich verschlissenes Tuch: Müde und | |
| dünn von den seit Jahren höchst unterschiedlich gelebten Leben scheinen die | |
| Fäden, die Huberta, Bettina und Sebastian in der Mitte ihres Lebens noch | |
| verbinden. | |
| Hessen, Berlin, Münchner Umland: Man sieht und hört sich selten, hat sich | |
| verschiedentlich eingerichtet, und viel mehr als pflichtschuldige | |
| Telefonate zum Geburtstag oder zu Weihnachten sind nicht mehr | |
| übriggeblieben von der Familienbande. Als Bettina auf die Idee kommt, dem | |
| verwitweten Vater zu seinem 77. einen gemeinsamen Überraschungsbesuch | |
| abzustatten, sind sich alle unsicher: Was wird das jetzt, Härtetest oder | |
| Zerreißprobe? | |
| Die Autorin und Feuilletonistin Elke Schmitter lotet in ihrem neuen Roman | |
| „Inneres Wetter“ die Verfasstheit einer bundesdeutschen Familie aus. Ein | |
| bildungsbürgerliches Milieu ist das, in dem die drei Kinder sich gemäß | |
| ihren Veranlagungen zu handfesten Individuen entwickeln durften. | |
| Der verträumte Sebastian, der sich „mit der pedantischen Freude des | |
| Tüftlers“ dem Verwaltungsrecht und „mit eingezogenem Herzen“ seiner Ehe … | |
| herb-schönen Mora hingibt. Die unbekümmerte Bettina, die schon als Kind als | |
| Erste „losstürmte“ und nun mit ihrem Literaturprofessor verheiratet ist – | |
| gütig und diskret werden sie aus der Ferne vom Vater in seinem | |
| niedersächsischen Altersexil beobachtet und eingeschätzt: Alle so weit | |
| zufrieden, selbstständig und nach gängigen Maßstäben erfolgreich. | |
| Einzig Huberta ist sozial abgestiegen in wirtschaftliche Prekarität, | |
| Einsamkeit und Alkoholismus. Sie vermisst ganz unverhohlen den Zusammenhalt | |
| früherer Tage: „Nirgends Verbündete jedenfalls: auch ihre Geschwister mit | |
| ihrer unmittelbaren Zukunft beschäftigt, mit dem Bestehen der Rituale. […] | |
| In einer kleinbürgerlichen, aber mächtigen Drift, die sie | |
| auseinanderführte. Keine Spur der Freiheit mehr, die sie eigentlich hatten. | |
| Und keine Horde mehr, deren patziges, glühendes bewundertes Oberhaupt sie | |
| gestern noch gewesen war.“ | |
| ## Überkandidelter Statusquatsch | |
| Schmitters Erzählen ist ein multiperspektivisches: Bewusst hält sie die | |
| Figuren in der Schwebe, lässt die Leserin mal am Innenleben dieser oder | |
| jener Figur teilhaben und hält sie damit gleichermaßen auf Distanz. Das ist | |
| auch gut so, denn jede und jeder für sich können sie mitunter etwas nerven, | |
| diese Mittelschichtsgeschöpfe mit ihren drögen Eheproblemen (Sebastian) | |
| oder ihrem überkandidelten Statusquatsch: (Bettina: „Habe [1][den neuen | |
| Piketty] besorgt. Wenn jemand mit Auto sich um Champagner kümmern könnte? | |
| Wir sind im,Victoria' am Markt, Fachwerk at its best.“) | |
| Aber natürlich ist dieser Roman nicht nur ein Familiengemälde, sondern auch | |
| Zeitdiagnose: eine behutsame Erkundung des bundesrepublikanischen | |
| Untergewebes, auf dem die Figuren sich bewegen und entfalten. Und weil | |
| Schmitter eben nicht nur Schriftstellerin ist, sondern auch linksliberal | |
| ironiegeschulte Spiegel-Redakteurin – von 1992 bis 1994 war sie auch | |
| [2][Chefredakteurin der taz] –, gerät das alles ziemlich distanziert: Echte | |
| Wärme will für keinen der ProtagonistInnen aufkommen, echte Probleme hat | |
| eigentlich auch keiner. | |
| Doch gerade dann, wenn man sich beim Lesen fragt, ob die in ihrer | |
| Midlife-Suppe dümpelnden Figuren jetzt vielleicht auch mal was | |
| Existenzielles, Spannenderes erleben, lässt Schmitter Löcher im Gewebe | |
| aufblitzen. | |
| ## Vergangene Schrecken | |
| Hier die Kindheitserinnerungen der kriegstraumatisierten Mora, deren | |
| Familie in den Balkankriegen auseinandergerissen wurde, dort die nur | |
| angedeuteten Gewaltverbrechen an den (verstorbenen) Frauen der älteren | |
| Generation in den letzten Kriegstagen: Mitunter weht ein Höllenatem aus | |
| vergangenen Schrecken die Familie an – und wird dann schnell wieder | |
| zugedeckt und eingewebt in eine Gegenwart aus Wohlstand und oberflächlichen | |
| Selbstberuhigungsfloskeln. | |
| „Als habe sich im Universum eine mollige Falte gezeigt, empfindet Sebastian | |
| das Verlangen, sich von seiner ältesten Schwester festhalten zu lassen und | |
| alles in einem Schwall von sich zu geben, all das Unverdaute, | |
| Bröckchenhafte, Magensaftresistente, das sein letztes Jahr belebt und | |
| vergiftet hat.,Sie hat schlecht geschlafen', sagt er.,Und sie macht sich | |
| ein bisschen Sorgen wegen Ben.' “ | |
| Zur Sache geht es dann doch noch bei den Kupfers. Ob das Familiengewebe am | |
| Ende hält, oder ob der 77. Geburtstag des Vaters zu einem | |
| Thomas-Vinterberg’schen Fest gerät, sei an dieser Stelle nicht verraten. | |
| 20 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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