| # taz.de -- Internationaler Tag der Geschwister: Der Bruder im Schrank | |
| > Unser Autor hatte einen ganz speziellen Bruder im Geiste. Hier erinnert | |
| > er sich an ihn, und an die Vor- und Nachteile vom Aufwachsen als | |
| > Einzelkind. | |
| Bild: Hier wär doch noch Platz im Planschbecken! Der Autor 1981 in Ludwigshafen | |
| Mein großer Bruder lebte in einem Schrank. Genauer gesagt: in einem braunen | |
| furnierten Kleiderschrank, der in meinem Kinderzimmer stand. Zumindest habe | |
| ich ab und zu behauptet, dass er da drin war. Irgendwo musste er ja sein, | |
| wenn man ihn schon sonst nicht sah. Ich habe nie wirklich mit ihm | |
| gesprochen, so real war er dann doch nicht. Der Bruder im Schrank war eine | |
| Idee, eine Fantasie, ein Wachtraum. | |
| Geträumt habe ich viel, Zeit und Raum hatte ich wirklich mehr als genug, | |
| das war ich gewohnt. [1][Denn ich war Einzelkind], und einen großen Bruder | |
| hatte ich mir immer gewünscht. Leider bin ich damit bei meinen Eltern auf | |
| taube Ohren gestoßen – es wäre natürlich auch schwierig umzusetzen gewesen | |
| für sie. Aber als Einzelkind war ich es eigentlich gewohnt, dass mir jeder | |
| Wunsch erfüllt wird. Und alle anderen hatten Geschwister, wirklich alle! | |
| In meiner Schulklasse, in meiner Reihenhaussiedlung am Rande von | |
| Ludwigshafen, wo ich Anfang der achtziger Jahre aufgewachsen bin, wimmelte | |
| es von Geschwisterkindern. Meine Freunde hatten überwiegend sogar große | |
| Brüder. Sie machten zwar keine große Sache daraus, dass ich das einzige | |
| Kind meiner Familie war, aber merkwürdig war es schon. | |
| Bei den anderen war zu Hause immer richtig was los. Es existierten zwar | |
| auch eine gewisse Strenge und Hierarchie im Umgang miteinander – so etwas | |
| war ich ja überhaupt nicht gewohnt –, aber es war halt immer Leben in der | |
| Bude. Bei uns saßen Mutter, Vater und Sohn am Tisch, und meistens war nicht | |
| so viel los. | |
| ## Mit wem soll man Quatschmachen und Witzeerzählen? | |
| Wie gut es doch gewesen wäre, meinen großen Bruder an meiner Seite zu | |
| wissen statt im Schrank! Immer wenn es im Kindergarten, in der Schule oder | |
| auf dem Bolzplatz Stress gegeben hat, wäre er zur Stelle gewesen. Auch zum | |
| Spielen, zum Quatschmachen und zum Witzeerzählen hätte ich jemanden gehabt. | |
| Vielleicht hätte er mir sogar die Rätsel des Lebens erklären können, all | |
| das, worüber ich mit meinen Eltern nicht sprechen wollte. Und neben mir | |
| hätte am Tisch noch jemand gesessen, der diese nervigen Fragen meiner | |
| Eltern hätte beantworten können. „Wie war es in der Schule?“, „Was habt… | |
| gelernt?“, so was. | |
| Irgendwann, es muss in der 2. oder 3. Klasse gewesen sein, war der Bruder | |
| im Schrank nicht mehr da. Der Wunsch nach einem Bruder war zwar nicht | |
| plötzlich verschwunden, aber ich bekam nun bei meinen Freunden mit, wie | |
| stressig es mit Geschwistern auch sein kann, wenn sie älter werden. Jetzt | |
| kamen meine Freunde sogar gern zu mir, weil man bei mir so viel entspannter | |
| zusammen spielen konnte – ohne diese nervigen Geschwister, die einen immer | |
| absichtlich bei allem störten. | |
| [2][An diesem Sonntag ist Tag der Geschwister]; gefeiert werden sie vor | |
| allem in den USA und in Kanada. Aber einen großen Bruder im Schrank, den | |
| hatte nur ich. | |
| 8 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Als-Einzelkind-aufgewachsen/!5034417 | |
| [2] https://siblingsday.org/about-us/ | |
| ## AUTOREN | |
| Erik Irmer | |
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